(djd). Mindestens einmal im Leben sind die meisten Menschen von einem akuten Tinnitus betroffen – einem Ton im Ohr, der ohne äußere Einflüsse auftritt. Bei jedem Zehnten werden die Geräusche chronisch und entwickeln sich zu einem dauerhaften Tinnitus. Das über Monate oder Jahre anhaltende Piepsen kann gravierende Folgen für die Patienten haben, weiß Dr. Hans Günther Ullmann aus Erfahrung. „Tinnitus beeinträchtigt die Betroffenen oft dauerhaft im Berufs- und Sozialleben, viele haben Konzentrations- und Schlafstörungen oder gar Depressionen“, so der Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde aus Melsungen.
Der Dauerton entsteht nicht im Ohr, sondern im Gehirn
Die Geräusche im Ohr treten oft plötzlich und aus heiterem Himmel auf. Bei David Poole etwa hat eine Mittelohrentzündung den Tinnitus ausgelöst. „Plötzlich hat es so richtig laut gepfiffen“, erinnert sich der 59-Jährige aus Ulm. „Das war eine schlimme und wirklich unangenehme Erfahrung.“ Dabei können nicht nur Infekte im Gehörgang Auslöser sein. „Auch Lärm, Stress oder Medikamente können zu Tinnitus führen oder ihn verstärken“, erklärt Dr. Ullmann.
Wissenschaftler sind inzwischen sicher, dass der Ton nicht im Ohr selbst entsteht, sondern im Gehirn: Bei den Betroffenen führt eine gestörte Reizweiterleitung vom Ohr zum Hörzentrum zu einer krankhaft gesteigerten synchronen Überaktivität von bestimmten Nervenzellen. Das Ergebnis: Die Nervenzellen geben permanent Signale ab und täuschen dem Gehirn damit einen Ton vor. Das flexible und lernfähige Organ stellt sich darauf ein, und der nervige Klang verfestigt sich mit der Zeit zum Dauerton. Vergleichen kann man dieses Phänomen etwa mit einer Klaviersaite, die ertönt, ohne dass der Pianist sie spielt. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren lassen sich diese Veränderungen im Gehirn sogar sichtbar machen. Auf Basis dieser Erkenntnis entwickelten Neurowissenschaftler ein Verfahren, das sich Akustische CR-Neuromodulation nennt. Mit dessen Hilfe sollen den überaktiven Nervenzellen die falschen Signale wieder abgewöhnt werden.
„An manchen Tagen vergesse ich den Tinnitus sogar“
Mehr als 18 Monate lang quälte der Tinnitus David Poole. Vor rund neun Monaten probierte er die CR-Therapie aus. Im ersten Schritt wurden spezielle Therapiesignale für ihn berechnet. Diese speicherte sein Arzt dann auf einem tragbaren Gerät, klein wie eine Streichholzschachtel. Über medizinische Kopfhörer hört Poole die Therapiesignale seitdem etwa vier bis sechs Stunden am Tag. Sie werden so an das Hörzentrum im Gehirn abgegeben. Die krankhaft synchronen Nervenzellen werden aus dem Takt gebracht und verlernen, den falschen Höreindruck zu erzeugen.
„Die Anwendung ist wirklich einfach“, erklärt Poole. „Trotz der Kopfhörer kann ich problemlos alles machen, selbst telefonieren und einkaufen.“ Das belastende Dauergeräusch sei seitdem deutlich leiser geworden: „Auch die Frequenz ist viel tiefer als früher, so dass ich an manchen Tagen sogar vergesse, dass der Tinnitus da ist.“ Sein Resümee: „Der Ton ist noch nicht komplett verschwunden, aber ich fühle mich jetzt weitaus besser als vorher.“
Oft zeigt die Therapie bereits nach zwölf Wochen erste Erfolge. Nach einem Dreivierteljahr nimmt bei drei von vier Patienten die Belastung durch den Tinnitus deutlich bis sehr deutlich ab, so das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie. Dr. Ullmann sieht das in seiner Praxis bestätigt: Bei 60 bis 70 Prozent der Patienten, die er mit der Akustischen CR-Neuromodulation behandelt, habe sich die Situation bereits verbessert, bei einigen von ihnen ist der Ton sogar verschwunden.