Psyche: Wie wir vernünftig bleiben, wenn das Verlangen groß ist

Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen entschlüsseln dynamische Gehirnmechanismen, die es dem Menschen erlauben, durch kurzfristigen Verzicht auf Belohnungen seinen Verhaltenserfolg langfristig zu optimieren.

(umg) Die Fähigkeit des Menschen, sein Handeln vernünftig zu steuern und dabei auch kurzfristig Verzicht zu üben, stellt eine wichtige Eigenschaft dar. Ohne diese Form von Selbstkontrolle oder Selbstzügelung würde menschliches Verhalten vor allem von Handlungsimpulsen bestimmt, die durch attraktive und belohnende Reize erzeugt werden. Damit wäre es Menschen beispielsweise nicht möglich, sich an sozia- le Normen und Gesetze zu halten.

Welches sind die neuronalen Mechanismen im Gehirn, die diesen verschiedenen Aspekten menschlicher Verhaltenssteuerung zugrunde liegen? Und wie interagieren diese Mechanismen miteinander, wenn „Kopf“ und „Bauch“ sich unterschiedlich ent- scheiden?

Wissenschaftler an der Universitätsmedizin Göttingen haben nun genauer die Dyna- mik der neuronalen Mechanismen erforscht, die bei menschlicher Handlungssteue- rung und Entscheidungsfindung ablaufen. Mitarbeitern im Schwerpunkt für Translationale Forschung in Systemischen Neurowissenschaften und Klinischer Psychiatrie in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. Peter Falkai) ist dabei ein entscheidender neuer Schritt gelungen: Die Forscher konnten erstmals im lebenden menschlichen Gehirn die Mechanismen sichtbar machen, die im Konflikt zwischen „Kopf und Bauch“ ablaufen. Als Instrument diente ihnen ein eigens dafür neu entwickeltes experimentelles Beispiel in der funktionellen Kernspintomogra- phie. „Wir konnten zeigen, dass ein spezielles Areal im Stirnlappen des Menschen, der so genannte „anteroventrale präfrontale Kortex“, die neuronale Aktivität in tiefer gelegenen Strukturen des Belohnungssystems unterdrückt. Dies geschieht, wenn zugunsten einer vernünftigen Entscheidung auf kurzfristige Belohnungen verzichtet wird“, sagt Prof. Dr. Oliver Gruber, der Leiter des Schwerpunkt. Die Ergebnisse der Arbeit wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Journal of Neuroscience“ veröffentlicht.

Regionen des „mesolimbischen Dopaminsystems“ reagieren mit erhöhter Akti- vität auf eine aktuelle und zu erwartende Belohnung. Das ist bereits länger bekannt und trifft besonders auf den „Nucleus accumbens“ und das „ventrale Tegmentum“ zu. Mögliche Gegenspieler sitzen in verschiedenen Arealen des Stirnhirns, des so genannten präfrontalen Kortex. Sie sind für wichtige Elemente kognitiver Verhaltenskontrolle funktionell bedeutsam, so beispielsweise für das Arbeitsgedächtnis. Sie spielen auch eine Rolle für zukunftsorientiertes Verhalten, das von impulsiven Wünschen entkoppelt ist. Welche Areale des Stirnhirns genau daran beteiligt sind, wenn Verhaltensimpulse im Angesicht von Belohnungsreizen unterdrückt werden, dies konnten Prof. Dr. Oliver Gruber und seine Mitarbeiterin Dr. Esther Diekhof nun erstmals zeigen. Zudem haben sie herausgefunden, wie diese Areale dynamisch mit den tief im Gehirn gelegenen Regionen des Belohnungssystems interagieren.

Die beiden Forscher haben dafür ein eigenes experimentelles Szenario entwickelt: Den Probanden wurden zuvor erlernte Belohnungsreize gezeigt. In manchen Situationen befanden sich die Probanden aber in einem Dilemma zwischen „Bauch“ und „Kopf“. Sie mussten auf die Annahme von Belohnungsreizen verzichten, um ein anderes Ziel verfolgen zu können, das langfristig den größeren Erfolg verspricht.
Zunächst wurden die Ergebnisse früherer Studien bestätigt: Die erlernten Belohnungs- reize lösten bei den Probanden wie erwartet ein starkes Signal in den Regionen des mesolimbischen Dopaminsystems – und hier besonders im „Nucleus accumbens“ und im „ventralen Tegmentum“ – aus. Aber dann konnte gezeigt werden, dass die Stärke dieses Belohnungssignals deutlich verringert war, wenn sich die Probanden in dem Entscheidungs-Dilemma befanden, die Belohnungsreize zugunsten langfristig lukrativerer Ziele ablehnen zu müssen.

Die Wissenschaftler fragten weiter: „Wie kommt es zu dieser Verringerung des Belohnungssignals in diesen Hirnbereichen?“ Mittels moderner Verfahren zur Analyse von dynamischen funktionellen Interaktionen zwischen verschiedenen Gehirnregionen gelang es Professor Gruber und seiner Mitarbeiterin auch dies aufzudecken. „Eine weit vorne im Stirnhirn gelegene Subregion, der avPFC, ist dafür verantwortlich, dass das Belohnungssignal im „Nucleus accumbens“ und im „ventralen Tegmentum“ unterdrückt wird. Je stärker diese funktionelle Kopplung im Gehirn einzelner Probanden ausgeprägt war, desto erfolgreicher waren diese Probanden im Experiment, vor allem weil sie weniger impulsiv handelten“, sagt Prof. Gruber. Diese dynamischen Interaktionen zwischen dem Stirnlappen (avPFC) und Regionen des Belohnungssystems sind somit wichtig, damit Menschen Verhaltensimpulse kontrollieren und durch kurzzeitigen Verzicht auf direkte Belohnungen längerfristige Ziele verfolgen können.

Die Ergebnisse der Göttinger Neurowissenschaftler und die von ihnen dafür entwickelte neue Methode stellen auch einen wichtigen Schritt für die translationale Erforschung von neuropsychiatrischen Störungen dar. Bedeutung könnte die Methode für die Erforschung von schizophrenen und affektiven Psychosen sowie Suchterkrankungen haben. Bei diesen und anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen, die mit Störungen der Impulskontrolle einhergehen, werden Störungen des Stirnhirns und des dopaminergen Belohnungssystems als mögliche Ursachen angenommen. Im Schwerpunkt für Translationale Forschung in Systemischen Neurowissenschaften und Klini- scher Psychiatrie an der Universitätsmedizin Göttingen wurden bereits weiterführende Forschungsprojekte gestartet, um nun die pathophysiologischen Grundlagen dieser Erkrankungen weiter zu erforschen.

„Translationale Forschung in Systemischen Neurowissenschaften und Klinischer Psychiatrie“: Der Schwerpunkt für Translationale Forschung wurde 2007 in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen eingerichtet. Die Forschungen haben das Ziel, mittels hirnbildgebender Methoden sowohl die Funktionen des gesunden menschlichen Gehirns als auch ihre Störungen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen im Detail zu erforschen. Die Forschung soll zur Entwicklung einer differenzierteren Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen beitragen. (Universitätsmedizin Göttingen 05/2010)

WEITERE INFORMATIONEN zum CenTRiSNP:
Psychatrie Med. Uni Göttingen

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