Das Syndrom der Überaktiven Blase ist ein Symptomkomplex aus imperativem, dem nicht zu unterdrückendem Harndrang, der bei der Dranginkontinenz mit Harnverlust einhergehen kann, aber nicht muss und der normalerweise von erhöhter Miktionsfrequenz, dem häufigerem Harnlassen und/oder nächtlichem Wasserlassen (Nykturie) begleitet wird. Dem Syndrom der Überaktiven Blase liegt eine Übererregbarkeit des Blasenwandmuskels, dem Musculus Detrusor, zugrunde. Normalerweise ist dieser Muskel in der Füllungsphase der Harnblase entspannt und verkürzt (kontrahiert) sich erst bei der gewollten Blasenentleerung (Miktion). Bei Patienten mit einer Überaktiven Blase zieht sich der Muskel bereits während der Blasenfüllung zusammen. Dadurch werden die typischen Beschwerden ausgelöst.
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Leitlinien empfehlen zur Behandlung der Blasenüberaktivität Anticholinergika als Therapeutika der ersten Wahl
Anticholinergika und Alpha-Adrenozeptor-Antagonisten gehören heute zum festen pharmakologischen Repertoire des Urologen. In der Behandlung der Blasenüberaktivität werden in sämtlichen nationalen und internationalen Leitlinien Anticholinergika als Therapeutika der ersten Wahl aufgeführt. Für keine andere Wirkstoffgruppe liegen ähnlich hohe Evidenzgrade oder Empfehlungsprioritäten vor. Anticholinergika blockieren die Bindung von Acetylcholin an seine Rezeptoren, von denen verschiedene Subtypen unterschieden werden.
In der Blase steuert M3-Subtyp die Detrusorkontraktion
Bei der Betrachtung der Muskarin-Rezeptoren ist ihre Verteilung in Subtypen und ihr ubiquitäres Vorkommen wichtig. Bisher wurden fünf verschiedene Subtypen (M1-M5) identifiziert, deren mRNS-Transcripte von 5 verschiedenen Genen codiert sind. Alle fünf Isoformen sind nicht nur molekularbiologisch, sondern auch pharmakologisch unterschiedlich, so Priv. Doz. Dr. Christian Hampel, Mainz. Während die Signalweiterleitung bei den Subtypen M1, M3, und M5 über eine membranständige Phospholipase-C den intrazellulären Secondmessenger und die intrazelluläre Ca-Mobilisierung anstößt, inhibiert dagegen die Aktivierung der Subtypen M2 und M4 die zytoplasmatische Adenylatcyclase und führt so zur Verknappung des cAMP. Auf menschlichen Detrusorzellen wurden Muskarin-Rezeptoren vom Typ M2 (80 Prozent) und M3 (20 Prozent) nachgewiesen, von denen in der Blase aber nur der M3-Subtyp für die Detrusorkontraktion unmittelbar verantwortlich ist. In der Pharmakotherapie der Überakriven Blase (OAB = overactive bladder) sind daher Substanzen mit selektiver M3 Wirkung von Vorteil. Spezifische Nebenwirkungen antimuskarinerger Substanzen lassen sich wiederum weitgehend von der Muskarin-Rezeptor-Verteilung unterschiedlicher Organe ableiten.
Subtypen der Muskarinrezeptoren haben in Organen unterschiedliche Verteilungsdichten
Neben diesen allgemeinen Verteilungsmustern existieren zweifelsohne auch individuelle Schwankungen in der Rezeptordichte und –subgruppenverteilung, die bei der Ätiologie einer Blasenüberaktivität durchaus Bedeutung gewinnen können. Klinische Relevanz gewinnt diese Rezeptorvariabilität durch die daraus folgende Notwendigkeit einer Dosisflexibilität, denn sowohl die Empfindlichkeit gegenüber Antimuskarinika-Nebenwirkungen wie auch die Wirksamkeit sind bei gleicher Dosis nicht bei jedem Patienten gleich. Die maximal erreichbare Wirkung lässt sich allerdings nicht beliebig steigern, sondern benötigt bei verschiedenen Rezeptorverteilungsvarianten unterschiedliche Dosen, ohne sich in ihrem Absolutwert zu verändern.246
Gleiche Wirkung an Blase und Darm von gleichen Antimuskarinika
Spezifische Nebenwirkungen antimuskarinerger Substanzen lassen sich von der Muskarinrezeptorverteilung unterschiedlicher Organe ableiten. Die weitgehend identische Verteilung von M2 und M3-Rezeptoren auf der glatten Muskulatur von Darm und Detrusor hat zur Folge, dass eine Senkung der Obstipationsrate bei mit Antimuskarinika behandelten OAB-Patienten nur durch einen gleichzeitigen Verzicht auf Detrusorwirkung erreicht werden kann. Umgekehrt ist es nicht vorstellbar, dass ein Antimuskarinikum bei gleicher Wirkung an der Blase in Bezug auf die Obstipationserzeugung besser verträglich ist als ein Konkurrenzprodukt. Solcherart kolportierte Verkaufsargumente nutzen in der Regel die Unvergleichbarkeit der verschiedenen OAB-Studien-Methodologien und fehlende Kopf-an-Kopf-Vergleichsstudien.
Anders verhält es sich bei Organen mit anderem Subtyp-Verteilungsmuster als dem der Blase. An den Speicheldrüsen regeln M3-Rezeptoren das Volumen und M1-Rezeptoren die Viskosität des Speichels. Die Blockade beider Rezeptor-Subtypen sollte sich folglich schwerer auf die klassische Antimuskarinika-Nebenwirkung Mundtrockenheit auswirken als die selektive Blockade nur eines Subtyps. Klinisch relevant scheint dieser unterschied jedoch nicht zu sein, da in den Zulassungsstudien bei den rezeptorsubselektiven Präparaten ähnliche Mundtrockenheitsraten wie bei den unselektiven Präparaten auftraten. Möglicherweise ist aber die Subselektivität nur nicht ausgeprägt genug.
Am Auge wird die Akkomodation über M3- und M5-Muskarinrezeptoren gesteuert. Auch hier ist eine vermutete bessere Verträglichkeit rezeptorsubselektiver Antimuskarinika bislang nicht in Studien belegt.
Antimuskarinerge Wirkungen am Herzen sind vor allem frequenzsteigernd, aber auch arrhythmogen, aus dem Atropin-Einsatz in der Intensivmedizin bekannt und M2-Rezeptor-vermittelt. Eine klinische Relevanz einer Herzfrequenzsteigerung durch ein unselektives Antimuskarinikum ergibt sich zum einen aus der engen Korrelation zwischen Mortalität und Herzfrequenz, zum anderen aber auch aus einer Verlängerung des QT-Intervalls im EKG, was im Extremfall zu einer letalen Herzrhythmusstörung, der torsade de pointes, führen kann. Hier haben sämtliche auf dem Markt befindliche Antimuskarinika ihre Unbedenklichkeit zu beweisen.
Darifenacin – hohe Selektivität als M3-Rezeptoren-Blocker
Darifenacin besitzt eine sehr hohe Selektivität für den an der Blase wirksamen M3 Rezeptor, wie ein direkter Bindungsaffinitätsvergleich in vitro mit den anderen Substanzen ergab. So kommt es unter Darifenacin nicht zu einer nennenswerten Blockade der myokardialen M2 Rezeptoren. Damit bleibt die Herzfrequenz praktisch unbeeinflusst und langfristige Schäden am Herzkreislaufsystem können wahrscheinlich verhindert werden (Olshansky B, et al. J Cardiovasc Pharmacol Ther 2008).
Darifenacin verkürzt am Herz eher QT-Zeit
Ein weiterer elektrophysiologischer Aspekt unterstreicht die Ausnahmestellung von Darifenacin. Viele Antiarrhythmika, aber auch psychotrope Pharmaka, Antibiotika, Antimykotika und Asthmamittel verändern die Reizleitung am Myokard mit einer Verlängerung der QT-Zeit im EKG: bei längerfristiger Behandlung kann dadurch tödliches Kammerflimmern ausgelöst werden. Darifenacin führt selbst in supratherapeutischen Dosierungen eher zu einer leichten Verkürzung der QT-Zeit, so dass gefährliche QT-Verlängerungen durch Darifenacin definitiv ausgeschlossen werden können (Serra DB et al. J Clin Pharmacol 2005).
Unter kardialen Sicherheitsaspekten kann davon ausgegangen werden, dass die hohe Selektivität von Darifenacin für den Muskarin 3 Rezeptor günstig ist bei der Therapie der überaktiven Blase.
Darifenacin auch bei kardiovaskulären Erkrankungen gut verträglich
Der Einsatz von Muskarin-Rezeptor-Antagonisten kann zu kardialen Begleiterscheinungen mit einer leichten Zunahme der Herzfrequenz führen. Eine chronische Steigerung der Herzfrequenz erhöht hingegen signifikant die Gesamtmortalität unabhängig von anderen Erkrankungen. Um dieses zu vermeiden, sollte eine anticholinerge Substanz mit entsprechender Muskarin-Rezeptor-Selektivität ausgewählt werden, so Priv. Doz. Dr. Friedhelm Späh, Krefeld. Darifenacin hat eine sehr hohe M3-Rezeptor-Selektivität und damit eine ausgezeichnete Wirkung an der Blase, ohne die myokardialen M2-Rezeptoren zu blockieren. In der Studie von Olshansky et al. wurde gezeigt dass es unter Darifenacin im Vergleich zu Placebo nicht zu einer Erhöhung der Herzfrequenz kommt. Unter Tolterodin hingegen kam es im Mittel innerhalb der ersten 8 Stunden zu einer signifikanten Erhöhung der Herzfrequenz um drei Schläge pro Minute (1). „Unter kardialen Sicherheitsaspekten ist die OAB-Therapie mit Darifenacin daher als sehr günstig zu bewerten, da kardiovaskuläre Langzeitfolgen wahrscheinlich
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Kognitive Funktionseinschränkungen durch Blockade von M1-Muskarinrezeptoren
Das Zentralnervensystem ist das einzige Organ des Körpers, in dem sämtliche Muskarinrezeptor-Subtypen vorkommen. Kognitive Fähigkeiten wie Konzentrationsfähigkeit und Merkfähigkeit werden vor allem über M1-Rezeptoren vermittelt. Ein unspezifische Antimuskarinikum kann also durchaus bei Durchdringung der Blut-Hirn-Schranke zu kognitiven Funktionseinschränkungen führen, und das bei Patienten, die im Rahmen des natürlichen Alterungsprozesses, aber auch durch die Summierung von Medikamenten mit anticholinerge Partialwirkung eine zunehmende kognitive Vorschädigung aufweisen. Hier gilt es Risikogruppen anhand einfacher praktikabler Basisdiagnostik zu identifizieren, bei denen der Einsatz kognitiv unbedenklicher rezeptorsubselektiver Antimuskarinika geboten ist.
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M3-selektive Rezeptorenblocker kaum Auswirkung auf die Kognition
Acetylcholin ist somit auch für die Aufmerksamkeit und die Gedächtnisfunktion im Gehirn von großer Bedeutung. Priv. Doz. Dr. Klaus-Christian Steinwachs, Nürnberg: „Fünfzehn bis zwanzig Prozent der über 65-jährigen klagen über Merk- und Gedächtnisstörungen, die auch mit einer altersbedingten Abnahme der Anzahl der Acetylcholin-Rezeptoren in Zusammenhang stehen“. Bei einer medikamentösen Blockade der vorwiegend im ZNS vorkommenden M1-Rezeptoren durch Anticholinergika kann es deshalb zu entsprechenden kognitiven Einschränkungen kommen: So wurde unter der Gabe von Oxybutinin retard bei Menschen ab 60 Jahren ein Leistungsdefizit des Kurzzeitgedächt-nisses von 20,7 Prozent gegenüber Placebo gemessen, was nach Meinung des Mediziners einer geistigen Alterung von zehn Jahren entspricht. Unter Darifenacin hingegen, welches eine geringe Affinität zum M1-Rezeptor hat, wurde keinerlei signifikante Beeinträchtigung beobachtet (2). Nach den Ausführungen von Steinwachs sollten daher ältere Patienten zur Therapie der überaktiven Blase wenn möglich nur pharmakologisch wirksame Substanzen bekommen, die das cholinerge System des Gehirns und die für die kognitive Funktion relevanten Rezeptoren kaum beeinträchtigen.
Quellen
1. Olshansky B et al. J Cardiovasc Pharmacol Ther 2008
2. Kay G. et al. Eur Urol 2006