Die Teilnehmer ihrer Studie sollten zunächst Personen benennen, die sie sehr stark mögen und außerdem welche, die sie überhaupt nicht mögen. Zusätzlich wurden sie nach Orten gefragt, die sie eher als neutral einschätzen. Als die Probanden später im MRT-Scanner lagen, stellten sie sich lebhaft vor, wie sie mit einer von ihnen sehr gemochten Person an einem dieser neutralen Orte Zeit verbringen. In ihrer Vorstellung sollten sie außerdem mit der gemochten Person interagieren. „Ich könnte mir also vorstellen, wie ich mit meiner Tochter im Fahrstuhl unseres Instituts bin und sie wild auf alle Knöpfe drückt. Dann fahren wir nach ganz oben, wo ich aussteigen würde, um ihr die Terrasse zu zeigen.“, beschreibt Erstautor Roland Benoit, der die Forschungsgruppe ‚Adaptives Gedächtnis‘ leitet.
Nach dem Scannen konnte er gemeinsam mit seinen Kollegen durch erneute Tests herausfinden, dass sich die Einstellung der Studienteilnehmer gegenüber den Orten verändert hatte: Sie mochten die vorher neutral bewerteten Orte lieber als am Anfang. Die Autoren beobachteten diesen Effekt zunächst mit Studienteilnehmern in Cambridge und konnten ihn daraufhin in Leipzig erfolgreich erneut aufzeigen. „Wenn wir also nur in unserer Vorstellung an einem neutralen Ort sind, mit einer Person, die wir sehr mögen, übertragen wir den emotionalen Wert, den diese Person für uns besitzt, auf diesen Ort. Und dabei müssen wir das Ganze nicht einmal in Wirklichkeit erlebt haben.“, fasst Mitautor Daniel L. Schacter zusammen.
Wie dieser Mechanismus im Gehirn funktioniert, konnten die Forscher anhand von MRT-Daten aufzeigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine Region im vorderen Hirnbereich, der ventromediale präfrontale Kortex. Hier werden Informationen etwa über einzelne Personen und Orte unserer Umwelt gespeichert, wie Benoit, Paulus und Schacter annahmen. Diese Gehinregion bewertet auch, wie wichtig die einzelnen Personen und Orte für uns sind. „Wir schlagen vor, dass dort Repräsentationen unserer Umwelt gebündelt werden, indem Informationen aus dem ganzen Gehirn zusammenlaufen und zu einem Gesamtbild gefasst werden.“, erklärt Benoit. „Zum Beispiel gäbe es dort eine Repräsentation mit Informationen über meine Tochter – wie sie aussieht, wie ihre Stimme klingt, wie sie in bestimmten Situationen reagiert.
Die Idee ist nun, dass diese Repräsentationen auch eine Bewertung beinhalten – zum Beispiel, wie wichtig meine Tochter für mich ist und wie sehr ich sie mag.“ Wenn die Probanden etwa an eine Person gedacht haben, die sie lieber mochten als eine andere Person, sahen die Wissenschaftler in dieser Region Anzeichen verstärkter Aktivität. „Wenn ich mir nun meine Tochter im Aufzug vorstelle, wird im ventromedialen präfrontalen Kortex sowohl ihre Repräsentation als auch die des Aufzugs aktiv. Hierdurch kann es zu Verknüpfungen zwischen diesen Repräsentationen kommen – der positive Wert der Person wird somit auf den vorher neutralen Ort übertragen.“
Weshalb sich die Neurowissenschaftler mit diesem Phänomen beschäftigen: Sie wollen die einzigartigen Fähigkeit des Menschen besser verstehen, nur durch Vorstellungskraft Dinge zu erleben und von dem Vorgestellten genauso zu lernen wie durch tatsächlich Erlebtes. Das könne große Vorteile bei der Entscheidungsfindung bringen oder auch helfen, Risiken zu vermeiden. Die Kraft auch negativer Gedanken zu erforschen, könnte Benoit zufolge der nächste Schritt sein: „Wir zeigen in unserer Studie, wie reine Vorstellungen dazu führen, dass Dinge positiver bewertet werden. Eine wichtige Frage ist aber auch, welche Folgen dieser Mechanismus etwa für Menschen hat, die sich tendenziell eher negative Vorstellungen von ihrer Zukunft machen. Menschen die etwa unter einer Depression leiden könnten auf diese Weise vielleicht auch eigentlich neutrale Dinge durch die Kraft der negativen Gedanken abwerten und somit für sich ein negatives Bild von der Welt erschaffen.“
wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Roland G. Benoit
Forschungsgruppenleiter MPI CBS
Telefon: +49 341 9940-114
Fax: +49 341 9940-2221
E-Mail: rbenoit@cbs.mpg.de
Originalpublikation:
„Forming attitudes via neural activity supporting affective episodic simulations”
Nature Communications (2019)
DOI: 10.1038/s41467-019-09961-w