Seit dem Auftreten der ersten Fälle in den frühen 1980er-Jahren rollt eine Infektionswelle über die Schweiz. Jahr für Jahr stecken sich mehrere hundert Menschen mit dem HI-Virus an, das die Immunschwächekrankheit Aids auslöst. Folgt diese Ausbreitung irgendwelchen Mustern? Unterscheiden sich diese Muster zwischen verschiedenen Übertragungsgruppen wie Drogensüchtigen, Homo- oder Heterosexuellen?
Diesen Fragen gingen vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte Forschende mit Hilfe modernster molekularer Methoden nach. Bei ihrer soeben im Fachmagazin «The Journal of Infectious Diseases» publizierten Untersuchung (*) konzentrierten sie sich auf den HIV-1 Subtyp B, der in der Schweiz etwa 70 Prozent aller Fälle ausmacht. Sie bestimmten das HIV-Erbgut bei 5700 anonymisierten Menschen, die sich zwischen 1981 und 2007 mit dem Erreger infiziert hatten. Ihre Idee: Je ähnlicher die Viren von zwei Patienten, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich beieinander angesteckt haben. So bestimmten die Forschenden in Zusammenarbeit mit Kollegen der ETH Zürich so genannte Übertragungsketten, in denen das Virus von einem Patienten auf den nächsten weitergegeben wurde.
Zwei unterschiedliche Übertragungswege
Insgesamt fanden die Forschenden 60 verschiedene Übertragungsketten, in denen sich mindestens je zehn Menschen mit HIV angesteckt hatten. Doch alle diese Ketten gehörten einem von nur zwei Kettentypen an: Einerseits Übertragungsketten, die sich hauptsächlich aus suchtkranken Menschen, die sich Heroin oder andere Drogen in die Blutgefässe spritzen, und aus Heterosexuellen zusammensetzen; und andererseits der Kettentyp, in dem sich das Virus vorwiegend unter homosexuellen Männern verbreitet. Die Ketten mit Drogensüchtigen und Heterosexuellen umfassten im Schnitt 144 Patienten; in der grössten Übertragungsgruppe infizierten sich sogar 1051 Menschen. Studienleiter Huldrych Günthard vom Universitätsspital Zürich führt dies vor allem auf die einfachere Verbreitung im Drogenmilieu zu Beginn der Epidemie zurück: «Das Virus gelangte durch den Austausch verseuchter Spritzen von ein paar anfänglich infizierten Personen rasch vom Blut eines Drogensüchtigen in das des nächsten», sagt er. Bei Homosexuellen dagegen, wo das Virus durch Geschlechtsverkehr übertragen wird, erfolgt die Ausbreitung in viel kleineren Ketten: In den Übertragungsketten der Homosexuellen steckten sich weniger Partner – durchschnittlich 29 Menschen – an.
Wichtige Rolle des Drogenstrichs
«Interessanterweise fanden wir keine Übertragungsketten, in denen das Virus vorwiegend von Heterosexuellen weitergegeben wurde», sagt Günthard. Das bedeutet, dass die treibenden Faktoren für die Ausbreitung der Epidemie in der Schweiz eindeutig die Infektionsketten unter Homosexuellen und Drogensüchtigen einerseits, sowie im Ausland erworbene Infektionen andererseits waren. Allerdings schwappte das Virus immer wieder von einer Gruppe zur anderen. So stammt beispielsweise jedes neunte HI-Virus bei Heterosexuellen aus den Übertragungsketten der Homosexuellen. Während es zwischen Homosexuellen und Drogenabhängigen kaum zu Ansteckungen kommt, war die Infektion Heterosexueller durch Drogenabhängige vor allem in den frühen 1980er-Jahren sehr häufig. «Eine wichtige Rolle nahm dabei sicher der Drogenstrich ein», sagt Günthard.
Die Zahlen der Forschenden zeigen aber, dass die Ansteckungen zwischen Drogensüchtigen und Heterosexuellen später stark abnahmen. Das liege vor allem daran, dass die Epidemie unter den Drogensüchtigen dank der 1986 lancierten Abgabe steriler Spritzen – im Austausch gegen die gebrauchten – eingedämmt werden konnte. Dies habe dazu geführt, dass sich auch weniger heterosexuelle Menschen mit HIV infizierten. Die Spritzenaustauschprogramme schützten also die gesamte Gesellschaft. Laut Günthard ist dies eine international wichtige Botschaft. Denn obwohl Spritzenabgabe-Programme weltweit inzwischen in 77 Ländern vorhanden sind, bleibt sie in vielen Ländern umstritten und wurde etwa in Island, in der Türkei und im Kosovo immer noch nicht eingeführt.
(*) Roger D. Kouyos, Viktor von Wyl, Sabine Yerly, Jürg Böni, Patrick Taffé, Cyril Shah, Philippe Bürgisser, Thomas Klimkait, Rainer Weber, Bernard Hirschel, Matthias Cavassini, Hansjakob Furrer, Manuel Battegay, Pietro L. Vernazza, Enos Bernasconi, Martin Rickenbach, Bruno Ledergerber, Sebastian Bonhoeffer, Huldrych F. Günthard and the Swiss HIV Cohort Study (2010). Molecular Epidemiology Reveals Long-Term Changes in HIV Type 1 Subtype B Transmission in Switzerland. The Journal of Infectious Diseases 201(10):1488–1497
(als PDF beim SNF erhältlich; E-Mail: pri@snf.ch)
Schweizerische HIV-Kohorten Studie
Das Ziel der seit 1988 bestehenden Studie ist, die Krankheit Aids besser zu verstehen sowie die Betreuung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Bisher haben sämtliche in der Schweiz auf HIV-spezialisierte Kliniken (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Lugano, St. Gallen und Zürich) Daten zum Krankheitsverlauf von über 16’000 HIV-infizierten Menschen gesammelt und ausgewertet. Zurzeit nehmen über 7500 Personen an der Schweizerischen HIV-Kohorten Studie teil, davon sind fast ein Drittel Frauen.
www.shcs.ch
Kontakt:
Prof. Dr. med. Huldrych Günthard
Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
Tel.: +41 (0) 44 255 34 50
E-Mail: huldrych.guenthard@usz.ch
(idw, 05/2010)