Spinale Muskelatrophie bei Säuglingen (SMA Typ 1)

Schwangerschaft

Die spinale Muskelatrophie Typ 1 (SMA1) wird meistens schon im Neugeborenenalter symptomatisch. Unbehandelt erreichen die Säuglinge in der Regel keinen der Entwicklungs-Meilensteine wie Kopfkontrolle, freies Sitzen oder Krabbeln und Laufen. Wegen der Schwäche der Schluckmuskulatur ist meistens eine vollständig orale Ernährung unmöglich, so dass zusätzlich eine Sondenernährung erforderlich ist. Unbehandelt versterben die meisten Kinder in den ersten zwei Lebensjahren am Versagen der Atemmuskulatur bzw. an Atemwegsinfektionen. Ursächlich liegt der SMA-Typ-1 eine autosomal-rezessive Genmutation zugrunde („loss-of-function“-Genmutation), die im Rückenmark zu einem Funktionsausfall der zu den Muskeln ziehenden Nervenbahnen (2. Motoneuron) führt, so dass die Muskelzellen keine Nervensignale bekommen. Betroffen ist das „Survival-Motor-Neuron-1“(SMN-1)-Gen auf Chromosom 5. Das SMN-1-Gen kodiert für das SMN-Protein, das für das Überleben und die Funktion der Motoneurone notwendig ist.

Spinale Muskelatrophie

Die multizentrische, open-label Phase-3-Studie „STR1VE-EU“ [1] evaluierte die Genersatztherapie mit dem seit 2020 in Deutschland zugelassenen Medikament Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®). Das Präparat wird einmalig als intravenöse Infusion verabreicht, molekular modifizierte Viren schleusen dabei das funktionsfähige humane SMN-Gen in die Zellkerne ein (Vektor-basierte Gentherapie), so dass dann das korrekte SMN-Protein gebildet werden kann. In der STR1VE-EU-Studie wurden Wirksamkeit und Sicherheit evaluiert; die Einschlusskriterien waren weiter gefasst als in der STR1VE-US-Studie (so waren schwerer erkrankte Säuglinge zugelassen). Neun Zentren (Krankenhäuser und Universitätskliniken) in Italien, UK, Belgien und Frankreich nahmen teil. Von August 2018 bis September 2020 wurden 41 Kinder unter sechs Monaten (180 Tage) mit SMA-Typ-1 gescreent, 33/34 schlossen die Studie ab. Das mediane Alter bei der Infusion lag bei 4,1 Monaten (IQR 3,0 bis 5,2). Während der ambulanten Nachbeobachtungszeit erfolgte über vier Wochen eine wöchentliche Untersuchung (beginnend am Tag 7 nach der Infusion), gefolgt von Kontrollen einmal im Monat bis zum Studienende. Das primäre Outcome war die Fähigkeit der Kinder, bis zum Alter von 18 Monaten für mindestens zehn Sekunden frei zu sitzen (gemäß der WHO-Definition / „Multicentre Growth Reference Study“). Die Therapieeffektivität wurde verglichen mit dem natürlichen Krankheitsverlauf in der PNCR-Kohorte („Pediatric Neuromuscular Clinical Research“).

14/32 Kindern (44%) erreichten den primären Endpunkt bis zur letzte Kontrolluntersuchung – gegenüber 0/23 unbehandelten Kindern der PNCR-Kohorte (p<0,0001). Ein Kind war studienunabhängig im Rahmen einer Atemwegsinfektion an einer Hypoxie verstorben. 31/32 der behandelten Kinder (97%) überlebten ohne unterstützende Beatmung über 14 Monate gegenüber 6/23 PNCR-Kindern (26%; p<0,0001). 32/33 Kinder hatten mindestens ein unerwünschtes Ereignis und 6/33 (18 %) hatten unerwünschte Ereignisse, die als schwer eingestuft wurden und in Zusammenhang mit dem Studienmedikament standen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Fieber (67%), Infekte der oberen Luftwege (33%) und Leberenzym-Erhöhung (27%).

„Gegenüber der US-Studie, die Kinder mit initialer Beatmung oder Sondenernährung ausgeschlossen hatte, waren in der EU-Studie auch Säuglinge mit teilweise schwerster symptomatischer SMA Typ 1 aufgenommen worden“, erläutert Frau Professorin Christine Klein, Past-Präsidentin der DGN. „Das Medikament zeigte trotzdem insgesamt eine gute Wirksamkeit, die Entwicklungs-Meilensteine wurden von den meisten Kindern erreicht. Im Studienverlauf benötigten fast 90% keine Sondenernährung und über 90% blieben ohne unterstützende Beatmung.“ Auch das Risiko-Nutzen-Profil könne als günstig bezeichnet werden, Nebenwirkungen waren gut zu managen und es gab keine Sicherheitsbedenken, die einen Studienabbruch erfordert hätten. Weitere Studien müssen nun den Langzeiteffekt und die Langzeitsicherheit überwachen.

Ein Aspekt, auf den die Expertin allerdings auch hinweist, sind die derzeit hohen Therapiekosten von mehreren hunderttausend Euro pro Patientin/Patient pro Jahr. „Wir müssen gesamtgesellschaftlich darauf einwirken, dass innovative Medikamente bezahlbar bleiben, das gilt letztlich für alle Indikationen. Die DGN führt seit geraumer Zeit Gespräche mit staatlich finanzierten Forschungseinrichtungen, der Wissenschafts- und Gesundheitspolitik und der forschenden Industrie und möchte einen offenen Diskurs anstoßen“, so die Lübecker Neurogenetikerin Christine Klein.

Literatur
[1] Mercuri E, Muntoni F, Baranello G et al. Onasemnogene abeparvovec gene therapy for symptomatic infantile-onset spinal muscular atrophy type 1 (STR1VE-EU): an open-label, single-arm, multicentre, phase 3 trial. Lancet Neurol 2021 Oct;20 (10): 832-841 doi: 10.1016/S1474-4422(21)00251-9.

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
Past-Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org

Originalpublikation:
doi: 10.1016/S1474-4422(21)00251-9.

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