Mehr als siebzig Prozent aller Neuinfektionen mit dem Immunschwäche Virus HIV kommen durch Geschlechtsverkehr zustande. Hauptüberträger: die Samenflüssigkeit. Wissenschaftler der Universität Ulm haben nun herausgefunden, dass bestimmte Zusammenlagerungen aus Spermapeptid-Fragmenten nicht nur die Infektiosität des HI-Virus verstärken, sondern auch die antivirale Wirkung von speziellen Vaginalgelen drastisch senken. „Es handelt sich dabei um Amyloidfibrillen, die Virus-Partikel binden und so besonders infektiöse Cluster bilden. Diese `Klebestäbchen´ sind wohl auch für die Hemmung der antiviralen Wirkstoffe in den Vaginalgelen verantwortlich“, so Professor Jan Münch. Der Wissenschaftler vom Institut für Molekulare Virologie am Ulmer Universitätsklinikum konnte in einer jüngst in Science Translational Medicine veröffentlichten Studie mit Ulmer Kollegen und Wissenschaftlern aus den USA den wissenschaftlichen Nachweis erbringen, warum bestimmte antivirale Mikrobizide – das sind chemische Substanzen, die Viren abtöten – zwar in präklinischen Tests sehr erfolgreich waren, in der klinischen Praxis aber meist versagt haben.
„Die Tests, die im Labor mit HI-Viren, Wirtszellen und antiviralen Mikrobiziden im Labor durchgeführt wurden, entsprachen einfach nicht den realen Bedingungen bei der sexuellen Übertragung des Virus“, so der Biochemiker Onofrio Zirafi, Erstautor der Studie. Was fehlte war: das Sperma. Bereits 2007 haben Münch und sein Kollege Professor Frank Kirchhoff die infektionsfördernden Amyloidfibrillen entdeckt, die als Semen-Enhancer of Virus Infection (SEVI) in die Fachliteratur eingingen. In ihrer jetzigen Studie wiesen sie nach, dass es nicht die Samenflüssigkeit an sich ist, die die Mikrobizide hemmt, sondern eben diese Spermapeptid-Aggregate. Mit synthetischen Amyloiden konnten die Forscher die antivirale Wirkung des HIV-Schutzstoffes ebenfalls hemmen. Samenflüssigkeit ohne Fibrillen konnte den Mikrobiziden hingegen nichts anhaben, sodass der Virenschutz bestehen blieb. Warum ist bisher niemand auf die Idee gekommen, antivirale Wirkstoffe im Beisein von Sperma zu testen? „Das Problem besteht darin, dass auch die Samenflüssigkeit an sich auf Zellen toxisch wirkt“, erklärt Münch. Die Wissenschaftler haben nun ein Verfahren entwickelt, mit dem man die Samenflüssigkeit bereits in prä-klinische Tests mit einbeziehen kann. Das Virus wird zuerst mit dem Sperma konfrontiert, und erst anschließend wird damit eine große Menge von Zellen infiziert. Die zelltoxischen Effekte des Spermas lassen sich damit soweit abschwächen, dass sinnvolle Untersuchungen möglich werden.
Das Forscherteam, dem neben den Virologen auch ein Ulmer Statistiker und Wissenschaftler aus San Francisco und New York angehören, hat zudem herausgefunden, dass es antivirale Wirkstoffe gibt, denen die klebrigen Amyloid-Stäbchen nichts anhaben konnten. Substanzen wie Marovirac, die nicht gegen das Virus selbst vorgehen, sondern an Oberflächenrezeptoren der Wirtszellen binden und so die Anheftung von Viren verhindern, konnten die Amyloid-Fibrillen nichts anhaben. Diese Ergebnisse liefern also nicht nur eine Erklärung für das Versagen von Mikrobiziden in klinischen Studien sondern ermöglichen auch die Entwicklung verbesserter Wirkstoffe zum Schutz vor der sexuellen Übertragung der Immunschwäche-Krankheit. Finanziert wurde das Projekt mit Mitteln der DFG, der International Graduate School in Molecular Medicine Ulm, der EU und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Jan Münch; Tel.: 0731 / 500 65 154; Email: jan.muench@uni-ulm.de;
Hinweis zur Veröffentlichung:
Zirafi O., Kim K.A., Roan N.R., Kluge S.F., Müller J.A., Jiang S., Mayer B., Greene W.C., Kirchhoff F., Münch J.: Semen enhances HIV infectivity and impairs the antiviral efficacy of microbicides; Sci Transl Med. 2014 Nov 12;6(262):262ra157
DOI: 10.1126/scitranslmed.3009634