Früherkennung von Sichelzellkrankheit und Thalassämie-Syndrom mit Neugeborenen-Screening ohne größeren Aufwand realisierbar

Es könnte so einfach sein, mit einem Screening werdender Mütter oder der Neugeborenen ließen sich Sichelzellkrankheit und Thalassämie so früh erkennen, dass Betroffene mit einer Stammzelltransplantation geheilt werden können. Den Patienten bliebe viel Leid erspart und dem Gesundheitswesen Ausgaben für teure Klinkaufenthalte. Weltweit sind diese beiden Hämoglobinopathien die häufigsten monogen vererbten Erkrankungen: Insgesamt geht man von ca. 500.000.000 Genträgern weltweit aus.

In vielen Ländern wurde das gravierende Gesundheitsproblem, das mit diesen Erkrankungen verbunden ist, bereits erkannt. In Deutschland besteht aber dringender Nachholbedarf. Insbesondere das von der Weltgesundheitsorganisation geforderte Neugeborenenscreening ist hierzulande bis heute nicht etabliert. Trotz der Leitlinien der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie erfolgt eine Diagnosestellung oft sehr spät, da die mit den Thalassämie-Syndromen und der Sichelzellkrankheit verbundenen Symptome selten bekannt sind. Damit einher geht eine verspätete Behandlung.

Eiseneliminationstherapie und Transfusionstherapie mit Erythrozytenkonzentraten bei der β-Thalassämie

Entsprechend den aktuellen Leitlinien ist eine regelmäßige Transfusionstherapie mit Erythrozytenkonzentraten (EK) Grundlage der symptomatischen Behandlung von Patienten mit β-Thalassaemia major. Da die EK-Transfusionen im Hämoglobin gebunden eine erhebliche Menge Eisen enthalten, besteht die Gefahr einer Eisenüberladung, die unbehandelt zu Schäden an Herz, Leber und/oder endokrinen Organen führen kann. Die Leitlinien empfehlen daher eine Eiseneliminationstherapie. Zahlreiche Studien zeigen, dass eine Eisenchelat-Therapie das mediane Gesamtüberleben von Patienten mit β-Thalassaemia major verlängern kann.

Zur symptomatischen Behandlung der Sichelzellkrankheit wird Hydroxycarbamid eingesetzt. Ca. 75 % der behandelten Patienten erleben dadurch eine erhebliche Verbesserung ihrer Krankheitssymptomatik. Sehr schwer betroffene Patienten müssen eventuell ebenfalls regelmäßig transfundiert werden.

Die einzige kurative Behandlungsmöglichkeit für Patienten mit Thalassämie-Syndromen oder Sichelzellkrankheit besteht in einer Stammzelltransplantation.

Hämoglobinopathien: Thalassämie-Syndrome und Sichelzellkrankheiten

Thalassämie-Syndrome und Sichelzellkrankheiten gehören zu den Hämoglobinopathien. Dies sind Erkrankungen, die durch Störungen des Hämoglobins bedingt sind. Sie werden vererbt und können je nach Gendefekt unterschiedlich schwere Krankheitsbilder verursachen. Es gibt – auch global betrachtet – keine anderen monogenen Erbkrankheiten, die häufiger auftreten als diese beiden Erkrankungen. Insgesamt geht man heute vorsichtig von ca. 500.000.000 Genträgern weltweit aus.

Ursprünglich treten diese Hämoglobinopathien vor allem im Mittelmeerraum, in weiten Teilen Asiens und in Afrika auf. Ihre Verbreitung weltweit ist in großem Maße angestiegen, in Deutschland sind sie noch vergleichsweise selten. Doch ihre Prävalenz steigt aufgrund der zunehmenden Anzahl von Einwohnern mit Migrationshintergrund auch hierzulande: Rein rechnerisch dürften etwa 400.000 der heute in Deutschland lebenden Menschen Hämoglobinopathie-Genträger sein. Diese Entwicklung stellt auch das deutsche Gesundheitssystem vor eine medizinische Herausforderung, deren volle Tragweite allerdings noch erkannt werden muss. Eine adäquate und umfassende Versorgung der Patienten ist entscheidend für ihre Lebenserwartung sowie ihre Lebensqualität.

Eine kausale Therapie steht weder für die Thalassämie-Syndrome noch für die Sichelzellkrankheiten zur Verfügung. Die einzige kurative Behandlung ist die Stammzelltransplantation. Darüber hinaus werden indikationsspezifische symptomatische Therapieoptionen genutzt.

Thalassämie-Syndrome: Krankheitsild und Diagnostik

Ursache der Thalassämie-Syndrome sind Gendefekte auf Chromosom 11 (bei β-Thalassämie) oder 16 (bei α-Thalassämie), die zu einer verminderten oder fehlenden Synthese einer oder mehrerer Globinketten führen. Somit ist die Hämoglobin-Polypeptidkettenbildung behindert und es wird zu wenig normales Hämoglobin synthetisiert. In Abhängigkeit von den involvierten Globingenen unterscheidet man α- und β-Thalassämien. Die meisten Mutationen werden autosomal-rezessiv vererbt.

Bei Patienten mit Migrationshintergrund sollte immer auch an eine Thalassämie gedacht werden. Zur Stellung dieser Diagnose erfolgen obligat die Bestimmung der hämatologischen Basisparameter sowie eine Hämoglobin-Analyse (Elektrophorese, HPLC), ergänzt durch eine Untersuchung des Eisenstatus. Den molekulargenetischen Nachweis der Thalassämie-Mutation liefert eine DNA-Analyse. Zur Beobachtung des Krankheitsverlaufs sowie zur Begleitdiagnostik bei Transfusionstherapie sind darüber hinaus weitere Untersuchungen erforderlich, insbesondere von endokrinologischen und kardiologischen Parametern, sowie regelmäßige Sonographien von Abdomen und Nieren.

Thalassämie-Syndrome: Symptomatische und kurative Therapieoptionen

Thalassämie-Syndrome gehören zu den Hämoglobinopathien – Erbkrankheiten, denen eine Störung der Hämoglobin-Produktion zugrunde liegt. Diese Erkrankungen gehen oft mit einer Anämie einher, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann: Bei Patienten mit β-Thalassaemia major ist sie – bedingt durch eine ineffektive Erythropoese so schwer – dass die Betroffenen lebenslang auf Transfusionen angewiesen sind. Unbehandelt würde die Anämie bereits im frühen Kindesalter zum Tod führen. Deshalb spielt die Transfusionstherapie in Kombination mit einer Eisenchelation als symptomatische Behandlung bei Thalassämie- Syndromen eine wichtige Rolle.

Die Initiatoren des 1. Symposiums "Hämatologie heute"
Die Initiatoren des 1. Symposiums „Hämatologie heute“, PD Dr. med. Holger Cario (l.) und Stephan Lobitz (r.), plädieren für ein Neugeborenenscreening zur Diagnose der Sichelzellkrankheit gemäß den aktuellen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie.

 

Sichelzellkrankheiten: Krankheitsbild und Diagnostik

Die Sichelzellkrankheit umfasst eine zu den erblichen Hämoglobinopathien zählende Gruppe von Erkrankungen, der das pathologische Hämoglobin S (HbS), zugrunde liegt. HbS bildet bei diesen Patienten mit mindestens, meistens weit mehr als 50% den Hauptanteil des Hämoglobins. Das HbS führt zu einer Änderung der Eigenschaften der Erythrozyten: Sie gehen von ihrer runden in eine halbmondartige, sichelzell-ähnliche Form über. Darüber hinaus sind diese „Sichelzellen“ weniger flexibel und können ihre Form nicht mehr so verändern wie Erythrozyten mit gesundem Hämoglobin. Infolgedessen können sie Blutgefäße nur langsam passieren. Sauerstoffmangel, fieberhafte Infekte oder Flüssigkeitsmangel führen dazu, dass die Zahl der Sichelzellen noch weiter ansteigt. Die Folge sind Gefäßverschlüsse in allen Organen, wie Haut, Leber, Milz, Knochen, Nieren, Retina und ZNS, die letztendlich zu Infarkten mit Gewebsuntergang führen (Sichelzell-Krise).

Die der Sichelzellkrankheit zugrunde liegende Mutation wird autosomal-rezessiv vererbt. Heterozygote Träger zeigen weitgehend keine Krankheitssymptome.

Sichelzellkrankheit: Typische Symptome

Die Sichelzellkrankheit ist eine Multi-Organkrankheit. Kennzeichnend sind eine chronische hämolytische Anämie, akute sowie chronische Vasookklusion oder Sequestration, Schmerzepisoden und eine erhöhte Infektionsneigung. Schmerzkrisen entstehen durch Vasookklusionen im Knochenmark und sind extrem belastend für die Betroffenen. So sind ca. 90% der stationären Aufenthalte von Sichelzellpatienten darauf zurückzuführen.

Sichelzellkrankheit: Diagnosestellung

Zur Diagnose der Sichelzellkrankheit empfehlen die aktuellen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie ein Neugeborenenscreening, das von der Weltgesundheitsorganisation gefordert und in anderen europäischen Ländern bereits Standard ist. In Deutschland wird bei typischer Symptomatik sowie entsprechenden Befunden und ethnischer Herkunft der Eltern eine Hämoglobin-Analyse zum Nachweis der Sichelzellkrankheit durchgeführt. Bei Risikogruppen wird ein Neugeborenenscreening (Untersuchung des Nabelschnurblutes) veranlasst. Von großer Bedeutung ist die genetische Beratung der Familienmitglieder bzw. von HbS-Trägern.

Sichelzellkrankheit mit Hydroxycarbamid: Wirksam bei symptomatischer Behandlung

Hydroxycarbamid ist das einzige zugelassene Medikament zur Behandlung der Sichelzellkrankheit, welches bei 70-75% der Patienten die Zahl und Intensität der Schmerzkrisen sowie die Häufigkeit des akuten Thorax-Syndroms und die Mortalität reduzieren kann. Hydroxycarbamid regt die Bildung von fetalem Hämoglobin (HbF) an, wodurch die HbS-Synthese gehemmt wird.

Hydroxycarbamid hat sich sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, die an moderaten bis schweren Symptomen, als sehr vielversprechend erwiesen. Indiziert ist Hydroxycarbamid bei Schmerzkrisen und zur Vermeidung wiederholter akuter Thoraxsyndrome. Bei täglicher Einnahme verringert Hydroxycarbamid das Auftreten von Schmerzkrisen und kann den Bedarf an Bluttransfusionen senken. Da Patienten häufig an Schmerzkrisen leiden, ist die Gabe von Analgetika (z.B. Paracetamol, Ibuprofen) indiziert.

Zur langfristigen Senkung des HbS-Anteils werden bei ZNS-Infarkten, Lungenhochdruck und chronischem Nierenversagen regelmäßige Blutaustauschtransfusionen  oder Einfachtransfusionen durchgeführt. Die Leitlinien empfehlen bei einer Einfachtransfusionstherapie eine begleitende Eiseneliminations-Therapie. Um das Auftreten lebensbedrohlicher Infektionen zu minimieren, wird eine vorbeugende Behandlung mit Penicillin (ab dem 2. Lebensmonat, mindestens 5 Jahre) empfohlen.

Transplantation – einzige kurative Therapie für Patienten mit Thalassämie- Syndromen oder Sichelzellkrankheit

Die einzige kurative Behandlungsmöglichkeit für Patienten mit Thalassämie-Syndromen oder Sichelzellkrankheit besteht in einer Stammzelltransplantation von allogenem Knochenmark oder allogenen Blutstammzellen. Die Heilungschancen sind umso höher, je jünger der Patient ist.

Quellen
1. Symposium „Hämatologie Heute“
Pressekonferenz der Charité; 26. April 2012,
Berliner Medizinhistorisches Museum, Berlin
Unterstützung durch Novartis Pharma GmbH, Nürnberg

Referate

  • Thalassämie-Syndrome und ihre Therapie: Zunehmende Relevanz in Deutschland
    PD Dr. med. Holger Cario, Ulm
  • Sichelzellkrankheit und ihre Therapie: Auch hierzulande ein Problem?
    Stephan Lobitz, Berlin

Literatur bei den Organisatoren

Organisatoren und weitere Informationen
Stephan Lobitz
Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie/Hämatologie/KMT
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel.: 030 – 450 666407
Email: stephan.lobitz(at)charite.de

 
PD Dr. med. Holger Cario
Kinder-Hämatologie und -Onkologie
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin
Eythstraße 24
89075 Ulm
Tel.: 0731 500 57219
E-Mail: holger.cario(at)uniklinik-ulm.de

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