Thromboseprophylaxe – Die Thrombose ist eine der häufigsten Todesursachen in den westlichen Industrieländern. Bislang behandelt man diese potenziell gefährliche Erkrankung mit Medikamenten, die entweder gespritzt oder sehr genau dosiert und regelmäßig kontrolliert werden müssen. Das Ziel einer wirkungsvollen und unkomplizierten Therapie zur Vermeidung von Thromboembolien wurde mit der Entwicklung und Zulassung eines oralen Faktor-Xa-Inhibitors erreicht.
Thrombose-Risiko durch orthopädischen Eingriffe und internistische Erkrankungen deutlich erhöht
Die Gefahr einer tiefen Venenthrombose besteht zum einen bei orthopädischen Eingriffen. Dazu zählen Hüftgelenksendoprothesen ebenso wie Kniegelenksendoprothesen, von denen im Jahr 2005 in den USA und Europa rund 815.000 Hüftgelenksendoprothesen implantiert wurden. Die Anzahl der jährlich eingesetzten Kniegelenksendoprothesen wird auf 761.000 geschätzt. In der EU wird geschätzt, dass jährlich über 1,5 Millionen venöse Thromboembolien (VTE) auftreten, die für den Tod von ca. 544.000 Menschen pro Jahr verantwortlich sind – das sind mehr Todesopfer als Brustkrebs, Prostatakrebs, HIV/AIDS und Verkehrsunfälle insgesamt pro Jahr fordern.
Zum anderen besteht die Gefahr einer Thrombose nicht nur bei orthopädischen Eingriffen. Auch Patienten mit Vorhofflimmern, Patienten nach einem akuten Herzinfarkt sowie stationär behandelte bettlägrige Patienten mit einer akuten internistischen Erkrankung sind gefährdet. Insgesamt zählen arterielle und venöse Thrombosen zu einer der häufigsten Krankheits- und Todesursachen weltweit.
Venöse Thromboembolien (VTE): Gefahr durch tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien
VTE (venöse Thromboembolien) umfassen tiefe Venenthrombosen (Blutgerinnsel in einer tiefen Vene, normalerweise im Bein) und Lungenembolien (Gerinnsel in der Lunge). Beides sind ernste, potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen. Thrombosen können sich von dem Ort lösen, an dem sie sich gebildet haben, werden vom Blutstrom durch den Körper transportiert und können so die Blutversorgung lebenswichtiger Organe blockieren. Patienten, die sich einem größeren orthopädischen Eingriff unterziehen, haben ein hohes VTE-Risiko, denn während der Implantation einer Knie- oder Hüftgelenksprothese kann es zu Verlet-zungen der großen Beinvenen und zu einem Blutstau in den Beinvenen, die das Blut zum Herzen zurücktranspor¬tieren, kommen. Bei 40 bis 60 Prozent aller Patienten, die keine adäquate medikamentöse VTE-Prophylaxe erhalten, kann sich nach einer größeren orthopädischen Operation der unteren Extremitäten ein Blutgerinnsel in den Beinvenen bilden.
Antikoagulanz Rivaroxaban – innovativer Faktor-Xa-Inhibitor
Grundlage dieses neuartigen Therapieansatzes, der 2009 mit dem Deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet wurde, ist der bei der Bayer Schering Pharma AG identifizierte Wirkstoff Rivaroxaban. Dieser Wirkstoff greift selektiv und gezielt an zentraler Stelle in die biochemischen Abläufe während der Blutgerinnung ein.
Maßgeblich für die Thrombosenbildung, beispielsweise die Ausbildung eines Blutgerinnsels in einer Vene, ist das Enzym Faktor Xa. Er steuert in der Gerinnungskaskade die Bildung des Enzyms Thrombin. Dieses spaltet Fibrinogen zu Fibrin – dem „Klebstoff“ der Blutgerinnung. Der Wirkstoff Rivaroxaban ist ein Antikoagulanz hemmt die Aktivität des Faktor-Xa-Enzyms und verringert so das Thromboserisiko. Die Blutgerinnung wird durch diesen innovativen Faktor-Xa-Inhibitor allerdings nicht völlig verhindert, so dass der Körper weiterhin Blutungen – etwa nach einer Verletzung oder einer Operation – stoppen kann.
Dr. Dagmar Kubitza, eine der Preisträgerinnen des Deutschen Zukunftpreis 2009: „Rivaroxaban greift gezielt am Faktor Xa in die Blutgerinnung ein.“ (Bild: J. Wolff MEDIZIN ASPEKTE)
Die Suche nach neuen Faktor-Xa-Hemmern begann 1998 in Zusammenarbeit mit Forschern aus Chemie, Pharmakologie, Pharmakokinetik, Galenik und Toxikologie und durchlief verschiedene Phasen wie Hochdurchsatz-Screening, Struktur-Optimierungsprozesse und Substanzcharakterisierung. Im Jahr 2000 wurde Rivaroxaban synthetisiert. Nach der Wirkstoff-Findung war die Entwicklung einer unkomplizierten und für den Patienten angenehmen Darreichungsform das Ziel. Am Ende stand ein neuartiges Medikament, das in klinischen Studien nicht nur eine höhere Wirksamkeit gezeigt hatte als die bisherige Standardtherapie zur Vermeidung von Venenthrombosen, sondern auch als Tablette eingenommen werden kann.
Thromboseprophylaxe häufig zu kurz betrieben
Voraussetzung für eine erfolgreiche Thromboseprophylaxe ist jedoch nicht nur eine medikamentöse Antikoagulation im direkten Zeitfenster eines Klinikaufenthalts.
Patienten mit einer vorausgegangenen tiefen Venenthrombose oder einer Lungenembolie erleiden seltener Rezidive, wenn sie länger als
6 oder 12 Monate behandelt werden und einmal täglich 20 mg Rivaroxaban erhalten. „In der EINSTEIN-Extension-Studie bewirkte die verlängerte Behandlung mit dem oralen direkten Faktor-Xa-Inhibitor eine relative Risikoreduktion für rezidivierende symptomatische venöse Thromboembolien von 82 Prozent gegenüber Placebo“, sagte Professor Dr. Rupert Bauersachs, Darmstadt. Das Ergebnis ist statistisch signifikant (Hazard Ratio 0,18; 95 Prozent Konfidenz Intervall 0,09 – 0,39; p < 0,0001). „Damit könnte Rivaroxaban in Zukunft eine einfache und wirksame Option für die langfristige Antikoagulation bieten“, sagte Bauersachs. Bis jetzt ist diese Indikation aber noch nicht zugelassen. Eine Bewertung duch die zuständigen Arzneimittelbehörden steht noch aus.
Professor Dr. Rupert Bauersachs, Darmstadt: „In der EINSTEIN-Extension-Studie bewirkte die verlängerte Behandlung mit dem oralen direkten Faktor-Xa-Inhibitor eine relative Risikoreduktion für rezidivierende symptomatische venöse Thromboembolien von 82 Prozent gegenüber Placebo“ (Bild: J. Wolff MEDIZIN ASPEKTE)
EINSTEIN-Studien-Programm: Behandlung und Sekundärprophylaxe nach venösen Thromboembolien (VTE)
Die EINSTEIN-Extension-Studie ist Teil des EINSTEIN-Studien-Programms mit ungefähr 7.500 Patienten, in dem Rivaroxaban zur Behandlung und Sekundärprophylaxe nach venösen Thromboembolien (VTE) geprüft wird. In den Studien EINSTEIN-DVT und -PE Evaluation erhalten Patienten mit einer akuten tiefen Beinvenenthrombose (DVT) oder einer Lungenembolie (PE) entweder Rivaroxaban oder Enoxaparin plus einen Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Die Behandlungsdauer beträgt je nach Arztentscheid drei, sechs oder zwölf Monate.
In die EINSTEIN-Extension-Studie wurden 1.197 Patienten randomisiert, die bereits sechs oder zwölf Monate lang mit Rivaroxaban oder einem VKA vorbehandelt wurden. Nach der Randomisierung erhielten sie einmal täglich 20 mg Rivaroxaban oder Placebo. Die Dauer der Sekundärprophylaxe betrug sechs oder zwölf Monate.
Bauersachs zufolge betrug die Inzidenz symptomatischer VTE-Rezidive im Rivaroxaban-Arm 1,3 Prozent gegenüber 7,1 Prozent im Placebo-Arm . „Schwere Blutungen traten unter Rivaroxaban bei 0,7 Prozent der Patienten auf. In der Placebo-Gruppe gab es keine schweren Blutungen. Der Unterschied war nicht statistisch signifikant. Weiter unterstrich Bauersachs, dass es in dieser Langzeitstudie keine Hinweise auf eine Leber-toxizität von Rivaroxaban gab.
Thromboseprophylaxe: breiteres therapeutisches Fenster im Vergleich zu Vitamin-K Antagonisten wünschenswert
„Die Sekundärprophylaxe ist heute eine der Herausforderungen in der Therapie venöser Thromboembolien“, kommentierte Bauersachs. „Die bislang verwendeten VKA haben ein schmales therapeutisches Fenster, müssen individuell variabel dosiert werden und interagieren mit vielen Arznei- und Nahrungsmitteln.“ Regelmäßige Kontrollen der Blutgerinnung sind daher unvermeidlich. „Diese Umstände sowie das erhöhte Blutungsrisiko durch Vitamin-K Antagonisten (VKA) erklären, warum viele Patienten keine längere Sekundärprophylaxe erhalten“, sagte Bauersachs.
Hier könnte Rivaroxaban in Zukunft neue Chancen eröffnen. Im Gegensatz zu Vitamin-K Antagonisten hat es ein breites therapeutisches Fenster sowie eine vorhersehbare Pharmakokinetik und Pharmakodynamik. Zudem kann es in einer fixen Dosis ohne Gerinnungskontrolle ange¬wendet werden. „Diese Eigenschaften machen Rivaroxaban zu einem Hoffnungs-träger für die Akut- und Langzeitbehandlung venöser Thromboembolien“, schloss Bauersachs.
Rivaroxaban zur Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit Vorhofflimmern
Die Ergebnisse der EINSTEIN-Extension-Studie schüren die Erwartungen an Riva-roxaban in einer weiteren Langzeitstudie: ROCKET-AF. Diese prüft, ob Rivaroxaban Schlaganfälle und systemische Thromboembolien ebenso effektiv wie Warfarin ver-hindern kann.
„Vorhofflimmern ist eine häufige Erkrankung“, sagte Professor Dr. Johannes Brachmann, Coburg. Seinen Worten zufolge leiden etwa zehn Prozent der über 70-Jährigen an dieser Herzrhythmusstörung. „Betroffene mit zusätzlichen Risikofaktoren haben ein erhöhtes Risiko, einen ischämischen Schlaganfall zu erleiden. Sie sollten daher chronisch antikoaguliert werden“, sagte Brachmann.
In der ROCKET-AF-Studie erhalten 14.269 Patienten mit Vorhofflimmern entweder einmal täglich Rivaroxaban oder den Vitamin-K-Antagonisten Warfarin, der auf einen INR-Wert zwischen 2,0 und 3,0 eingestellt wird. Das Design der Studie ist doppelblind, doppel-dummy. Die ROCKET-AF-Studie ist ereignisabhängig und soll zeigen, dass Rivaroxaban dem VKA Warfarin beim primären Wirksamkeitsendpunkt (Schlaganfall und systemische Thromboembolien) nicht unterlegen ist. Ist dieses Ziel erreicht, wird auf Überlegenheit geprüft. Beim primären Sicherheitsendpunkt (schwere und nicht schwere klinisch relevante Blutungen) wird von vornherein auf Überlegenheit geprüft. Die Studiendauer wird bei 12 bis 32 Monaten liegen, die anschließende Beobachtungsperiode beträgt
30 bis 35 Tage. Mit Ergebnissen wird noch in diesem Jahr gerechnet.
Umstellung von Heparinen auf Rivaroxaban unproblematisch
Während Rivaroxaban sein Potenzial noch in diversen Studien unter Beweis stellen muss, ist die Substanz in einer anderen Indikation schon dabei, sich zu etablieren.
„Seit der Zulassung zur Thromboseprophylaxe nach elektivem Knie- und Hüftgelenksersatz bei erwachsenen Patienten in 2009 haben zahlreiche orthopädische Kliniken von niedermolekularen Heparinen auf Rivaroxaban umgestellt“, sagte Dr. Patrick Mouret, Frankfurt. Als Gründe für diese Entwicklung nannte Mouret die überlegene Wirksamkeit bei vergleichbarer Sicherheit von Rivaroxaban gegenüber der bisherigen Standardprophylaxe Enoxaparin sowie die Vorteile für das Pflegepersonal und die Patienten. Rivaroxaban habe sich auch als gut verträglich und wirksam erwiesen. Zudem sei die orale Antikoagulation mit Rivaroxaban für das Pflegepersonal und die Patienten zeitsparend und angenehm, so Mouret.
Galenik einer innovative Antikoagulation fördert Compliance: Tabletten statt Spritzen
„Unter Rivaroxaban entfällt das routinemäßige Plättchenmonitoring, Spritzen müssen nicht mehr vorbereitet und verabreicht werden, und die Patienten benötigen keine Schulung zur Selbstinjektion“, sagte Mouret. Auch in der Anästhesie lässt sich Rivaroxaban in den routinemäßigen Ablauf integrieren. „Die erste Gabe von Rivaroxaban erfolgt erst sechs bis zehn Stunden postoperativ, was die Anwendung der Regionalanästhesie erleichtert“, unterstrich Mouret. Das Zeitfenster erlaube auch eine Gabe, wenn Patienten postoperativ erbrechen. „Die Halbwertszeit ermöglicht es zudem, den 24-Stunden-Rhythmus der VTE-Prophylaxe auch bei Entfer¬nung eines liegenden epiduralen Katheters beizubehalten.“
All dies erkläre, warum die Prozessumstellung in den meisten Fällen einfacher verlief als erwartet. Und die Patienten zeigten ohnedies eine klare Präferenz: „Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich mehr als 70 Prozent für die Tablette anstelle der Spritze“, so Mouret. (03/2010 MEDIZIN ASPEKTE)
Quelle
Workshop
Thrombosen und ihre Folgen – eine klinische Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln
Veranstalter: Bayer Vital GmbH
9. bis 10. März 2010
Kloster Johannisberg
Vorträge
- Vom Reagenzglas bis zum Deutschen Zukunftspreis: Rivaroxaban – eine Erfolgsgeschichte
Dr. med. Dagmar Kubitza
Bayer Schering AG - Rivaroxaban: Erfahrungen aus 15 Monaten klinischer Anwendung
Dr. med. Patrick Mouret
Leitender Oberarzt der Orthopädischen Klinik
Klinikum Frankfurt Höchst - Therapie venöser Thromboembolien: Aktuelle Daten der EINSTEIN-Studie
Prof. Dr. med. Rupert Bauersachs
Direktor der Medizinische Klinik IV – Angiologie
Klinikum Darmstadt - Bedeutung der Thrombose aus kardiovaskulärer Perspektive: Eine Übersicht
Prof. Dr. med. Johannes Brachmann
Chefarzt II. Med. Klinik
Klinikum Coburg GmbH - Die Zukunft der Antikoagulation: Der Stellenwert von Rivaroxaban
Prof. Dr. med. Bettina Kemkes-Matthes
Leitung Interdisziplinärer Stützpunkt Hämostaseologie
Universitätklinikum Gießen und Marburg