Knut war ein Publikumsmagnet und weit über die Grenzen Berlins bekannt. Das Tier verstarb am 19. März 2011, als es infolge eines epileptischen Anfalls in den Wassergraben seines Geheges stürzte und ertrank. Die Todesumstände wurden damals vom IZW intensiv untersucht und als Auslöser der epileptischen Anfälle eine Hirnentzündung festgestellt. Eine Infektion wurde als Auslöser vermutet, die genaue Ursache der Erkrankung blieb jedoch rätselhaft.
Kooperation von Hirn- und Wildtierforschern
Als Privatdozent Dr. Harald Prüß, Wissenschaftler am Berliner Standort des DZNE und Facharzt an der Klinik für Neurologie der Charité, von diesem Befund erfuhr, studierte er den Autopsiebericht und entdeckte Parallelen zu eigenen Studien über menschliche Hirnerkrankungen. Der Neurowissenschaftler setzte sich daraufhin mit Prof. Alex Greenwood, Leiter der Abteilung für Wildtierkrankheiten des IZW, in Verbindung. Sollte Knut an einer Autoimmunerkrankung des Gehirns gelitten haben? Die beiden Forscher verständigten sich schnell darauf, dieser Vermutung gemeinsam nachzugehen. Denn Greenwood, der die ursprüngliche Untersuchung über Knut geleitet hatte, hatte schon seit längerer Zeit eine nicht infektionsbedingte Enzephalitis in Betracht gezogen. Vor der Zusammenarbeit mit Prüß hatte es jedoch keine Möglichkeit gegeben, diese Krankheit bei Wildtieren nachzuweisen. Das IZW hatte Proben vom Gehirn des Eisbären aufbewahrt. Auf diese griffen die Forscher nun zurück.
„Für uns waren diese Untersuchungen eine Möglichkeit, unsere Testmethoden zu erweitern und zu verfeinern“, sagt Prüß. Die Analyse ergab, dass der Eisbär an „Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis“ erkrankt war. In den Gewebeproben des Tieres konnten die Wissenschaftler dafür typische Eiweißstoffe, sogenannte Antikörper, nachweisen.
„Diese Autoimmunerkrankung war bislang nur von Menschen bekannt. Das Abwehrsystem des Körpers schießt gewissermaßen über das Ziel hinaus. Es werden Antikörper freigesetzt, die die eigenen Nervenzellen schädigen, statt Krankheitserreger zu bekämpfen“, erläutert Prüß. „Zu den möglichen Symptomen zählen epileptische Anfälle, Halluzinationen und Demenz.“
Bis vor kurzem unbekannt
Entdeckt wurden diese Mechanismen erst vor wenigen Jahren. Früher habe man beim Menschen die Ursachen von Hirnentzündungen, die nicht durch Erreger wie Viren, Bakterien oder Parasiten ausgelöst werden, nur unzureichend aufschlüsseln können, so Prüß. „Inzwischen ist die Zahl der ungeklärten Fälle deutlich gesunken. Seit 2010 wissen wir, dass die meisten Patienten mit einer Hirnentzündung ohne Erregernachweiß an Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis erkrankt sind. Denn mittlerweile gibt es Testverfahren, um die dafür charakteristischen Antikörper nachzuweisen“, sagt der Neurowissenschaftler. „Beim Menschen lässt sich diese Erkrankung relativ gut mit Medikamenten behandeln.“
„Letztlich hat uns dieses Resultat doch ziemlich beeindruckt“, kommentiert IZW-Forscher Greenwood die neuen Erkenntnisse über Knuts Erkrankung. „Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis wurde erst kürzlich beim Menschen beschrieben. Sie ist aber offenbar auch für andere Säugetiere von Bedeutung. Wir sind erleichtert, das Rätsel um Knuts Erkrankung endlich gelöst zu haben. Zumal diese Erkenntnisse praktische Bedeutung haben könnten. Beim Menschen ist diese Erkrankung therapierbar. Wenn es gelingt, diese Therapien zu übertragen, könnten wir bei Zootieren möglicherweise Hirnentzündungen erfolgreich behandeln und Todesfälle vermeiden.“
Antikörper-Tests bei Demenzpatienten
„Knuts Erkrankung ist ein weiterer Fingerzeig noch in einer anderen Beziehung: Möglichweise sind Autoimmunerkrankungen des Nervensystems bei Menschen und anderen Säugetieren weiter verbreitet als bisher angenommen“, meint Greenwood.
„Es könnte sein, dass wir bei Menschen mit Psychosen oder Gedächtnisstörungen autoimmunvermittelte Entzündungen übersehen. Denn diese Patienten werden nicht routinemäßig auf die zugehörigen Antikörper untersucht. Infolgedessen können wir sie nicht optimal behandeln. Daher halte ich es für sinnvoll, insbesondere dann, wenn die Ursache einer Demenz unklar ist, Patienten auf entsprechende Antikörper zu testen. Denn Antikörper sind mögliche Angriffspunkte für Medikamente. Zumal es neben der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis noch weitere Hirnerkrankungen gibt, für die fehlgeleitete Antikörper ebenfalls von Bedeutung sind“, kommentiert DZNE-Forscher Prüß.
„Das vorliegende Untersuchungsergebnis ist ein wichtiger Forschungsbeitrag in Sachen Autoimmunerkrankungen des Nervensystems bei Tieren. Man kann den Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen, des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung sowie der Charité – Universitätsmedizin Berlin nur gratulieren. Sie haben die Basis dafür geschaffen, dass in Zukunft entsprechende Erkrankungen wie jene von Knut früher erkannt und behandelt werden können“, sagt Dr. Andreas Knieriem, Direktor des Zoologischen Gartens Berlin.
Originalveröffentlichung
Prüss H, Leubner J, Wenke NK, Czirják GÁ, Szentiks CA, Greenwood AD (2015): Anti-NMDA Receptor Encephalitis in the Polar Bear (Ursus maritimus) Knut. SCIENTIFIC REPORTS, DOI: 10.1038/srep12805.
Kontakt:
Steven Seet
+49 177 857 26 73
seet@izw-berlin.de
Weitere Fotos:
01-03: Knut 2007, Bildautor: Zoo Berlin/04: Knut 2008, Bildautor: Zoo Berlin/05: Knut mit Enzephalitis, Bildautoren: DZNE, IZW & Zoo Berlin. Download-link (20 MB):
http://www.zoovet-conference.org/knut/knut.zip
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) erforscht die Ursachen von Erkrankungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie und Pflege. Es ist eine Einrichtung in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V. mit Standorten in Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen und Witten. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen.
Das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) ist eine national und international renommierte Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft. Mit den Forschungszielen „Anpassungsfähigkeit verstehen und verbessern“ untersucht es die evolutionären Anpassungen von Wildtierpopulationen und ihre Belastungen durch den globalen Wandel und entwickelt neue Konzepte und Maßnahmen für den Artenschutz. Dafür setzt es seine breite interdisziplinäre Kompetenz in Evolutionsökologie und –genetik, Wildtierkrankheiten, Reproduktionsbiologie und –management im engen Dialog mit Interessensgruppen und der Öffentlichkeit ein. Das IZW ist Teil des Forschungsverbund Berlin e.V. (www.fv-berlin.de) und Mitglied in der Leibniz-Gemeinschaft (www.leibniz-gemeinschaft.de).
Die Charité – Universitätsmedizin Berlin, ist eine gemeinsame Einrichtung der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Charité zählt zu den größten Universitätskliniken Europas.
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Der Zoo Berlin gilt – mit seiner Eröffnung 1844 – als der erste Tiergarten Deutschlands und ist gegenwärtig der artenreichste Zoo der Welt. Mitten im Herzen Berlins leben im Zoo und Aquarium mehr als 17.000 Tiere in knapp 1.500 Arten. Neben außergewöhnlichen Exoten, wie den Kiwis und Axolotl, beheimatet der Zoo Berlin viele vom Aussterben bedrohte Arten sowie seltene Haustierrassen. Zur Zoologischer Garten Berlin AG gehört auch der Tierpark Berlin im Osten der Stadt. Der flächenmäßig größte Tierpark Europas beheimatet mehr als 7.000 exotische Tiere in 815 Arten. Die Tiere leben hier in einer abwechslungsreichen, weitläufigen Parklandschaft. Europaweit einzigartig sind auch die Besucherzahlen: mehr als 4,4 Millionen Gäste besuchen jährlich die Zoo Berlin AG.