„Die medizinhistorische Arbeit hat deutlich gemacht, wie sich das Regime auf der einen, Neurologen und weitere Mediziner auf der anderen Seite mit aktiver Unterstützung und wissenschaftlich untermauerten Rechtfertigungen der NS-Ideologie gegenseitig von Nutzen waren. Und wie im Gegenzug Ressourcen, Macht, Ansehen, Bedeutung für Einzelne oder eine Institution bereitgestellt wurden.“ Die DGN hat bereits zwei Nachfolgeprojekte initiiert, die sich detaillierter Einzelbiografien von Neurologen in Deutschland sowie den vertriebenen und ermordeten Kollegen widmen werden.
Das Symposium „Neurologie in der NS-Zeit“ findet am 22.09.2016 von 8:30 bis 10:00 Uhr unter Vorsitz von Martin Grond und Axel Karenberg statt. Die Vorträge behandeln „Vertriebene Neurowissenschaftler und ihre Schicksale“ (Prof. Karenberg), „Biografische Brüche? Mehrdeutige Lebenswege von Neurologen im Nationalsozialismus“ (H. Fangerau) und „Entgrenzte Wissenschaft: Beispiele neurologischer Forschung im Nationalsozialismus“ (M. Martin). Die Publikation „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit“ ist als Supplement von „Der Nervenarzt“, Band 87, August 2016, auf dem DGN-Kongress kostenlos erhältlich.
Selbstgleichschaltung als Phänomen nach der Machtergreifung
Die Dokumentation zeigt, wie sich die Neurologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts organisatorisch als medizinische Disziplin von der Psychiatrie und Inneren Medizin emanzipiert hatte, aber kurz nach der Machtergreifung auf politischen Druck hin in die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (DGNP) eingegliedert wurde. Die DGNP erwies sich, etwa mit ihrem Vorsitzenden, dem Psychiater Ernst Rüdin, psychiatrisch dominiert und rassenhygienisch ideologisiert. Dieser Sachverhalt wurde in der Nachkriegszeit oft als schnelle Entschuldigung und indirekte Argumentation dafür genutzt, die Neurologie als gering belastete Disziplin zu betrachten. Mit der aktuellen Analyse auf Basis des inzwischen vorliegenden Kenntnisstands wird aber ein deutlich komplexeres Bild gezeichnet.
„Die skizzierten Lebenswege der Neurologen dieser Zeit belegen, dass es viele Nuancen des medizinischen und wissenschaftlichen Wirkens unter, in oder mit dem NS-Regime gibt“, so Prof. Grond. „Ein wiederkehrendes Muster ist allerdings die Tendenz zur Selbstgleichschaltung.“ Ein Beispiel ist Max Nonne, der um 1925 der erste und einzige Hochschullehrer in Deutschland war, der sowohl einen Lehrstuhl für Neurologie innehatte als auch gleichzeitig eine eigenständige Neurologische Universitätsklinik leitete. Er soll den Nationalsozialisten zwar ablehnend gegenüber- gestanden und sich für seine jüdischen Kollegen eingesetzt haben. Andererseits trat er 1942 in einer Denkschrift für die Tötung geistig Behinderter als rassenhygienische Maßnahme ein. Nach Kriegsende soll er sich für Kollegen, die NSDAP-Mitglied waren, als Fürsprecher verwendet haben.
Es wird der Lebensweg von Georg Schaltenbrand aus Würzburg skizziert, der höchst fragwürdige Menschenexperimente im Rahmen seiner MS-Forschung durchführte, aber nach dem Krieg in mehrere Ämter, unter anderem auch den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, eingesetzt wurde.
Die Dokumentation zeigt auch, wie angesichts des politischen Staatsziels der Eugenik medizin- und wissenschaftsethische Prinzipien vernachlässigt wurden: Zum Beispiel wurden im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Zwangssterilisation an Epilepsie leidende Patienten an die Behörden gemeldet und die Forschung zu idiopathischen Epilepsieformen auf erbliche Erklärungsmuster konzentriert. Die Forschung entgrenzte sich und schreckte auch vor dem eingeplanten Tod der beforschten Patienten nicht zurück.
Die Medizinhistoriker beschreiben, wie Neurologen von den Euthanasie-Aktionen über kollegiale Netzwerke profitierten, etwa Julius Hallervorden, der von ca. 1940 bis 1945 knapp 700 Gehirne von Euthanasie-Opfern erhielt und dies in einem Brief von 1944 bestätigte. Seine Hirnschnitte wurden wohl noch mindestens bis in die 1960er-Jahre für die Forschung genutzt.
Wahrung moralischer Grenzen medizinischen Forschens und Handelns
„Die DGN und wir wollen mit der Dokumentation des derzeitigen Wissensstands gerade auch die jüngeren Neurologinnen und Neurologen erreichen, die vielfach zum ersten Mal von der Beteiligung der Neurologie an Medizinverbrechen und ihrer konzeptuellen Vorbereitung sowie von der Vertreibung von Kolleginnen und Kollegen hören“, erklärt Professor Heiner Fangerau vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Düsseldorf. Er hat die Dokumentation gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Dr. Michael Martin und Professor Axel Karenberg vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln angefertigt. „Die Analyse der Medizin im ,Dritten Reich‘ hat deutlich gemacht, wie sehr medizinische Forschung und medizinische Praxis von gesellschaftlichen Erwartungen, politischem Druck und finanziellen Rahmenbedingungen abhängig sind. Dies ist heute nicht anders als damals, auch wenn sich Umstände und Rahmenbedingungen geändert haben“, schreibt Prof. Axel Karenberg. „Wichtig erscheint uns, dass heutige Ärztinnen und Ärzte durch Erinnern nicht aus dem Blick verlieren, welche Verantwortung sie für die Wahrung moralischer Grenzen medizinischen Forschens und Handelns tragen“, so Prof. Fingerau.
Zweiter Teil des Forschungsprojekts „Neurologie in der NS-Zeit“ startet 2017
„Die skizzierten Lebenswerke sollen in einem Folgeprojekt von den Medizinhistorikern deutlich vertieft und die Lebenswege von Protagonisten detaillierter analysiert werden, unter anderem der von Heinrich Pette“, erklärt Prof. Gereon R. Fink, ab 2017 Präsident der DGN. Mit dem Heinrich Pette-Preis verbinden Neurologen herausragende Leistungen in der Nervenheilkunde. Sein Namensgeber war seit 1935 Vorsitzender der auf Weisung des nationalsozialistischen Regimes gegründeten Neurologischen Abteilung der DGN-Vorgängerorganisation GDNP. Nach dem Krieg gründete er 1950 die Deutsche Gesellschaft für Neurologie und blieb bis 1952 deren Vorsitzender. Bis heute ist nicht völlig klar, in welcher Form sich Heinrich Pette mit dem NS-System arrangiert hat: Inwieweit trug er die Erb- und Rassenpolitik des NS-Staates mit? Förderte er entgrenzte Forschung? War er indirekt an der Ermordung von psychisch Kranken und behinderten Menschen im Rahmen der sogenannten Euthanasie-Aktionen beteiligt? Ebenso stehen Forschungsarbeiten über die Lebenswege anderer Namensgeber für neurologische Erkrankungen (Eponyme) oder für Preise sowie über DGN-Ehrenvorsitzende und -Ehrenmitglieder im Nationalsozialismus aus.
2019 soll das ebenso wichtige zweite Folgeprojekt beginnen, dessen Ziel es ist, erstmals die Gesamtgruppe der vertriebenen und ermordeten deutschen bzw. deutschsprachigen Neurologinnen und Neurologen zu erfassen und darzustellen. Bis jetzt sind mindestens 70 emigrierte, in Konzentrationslagern ermordete oder in den Suizid getriebene Neurologen und Neurowissenschaftler bekannt. Die Ergebnisse des ersten Folgeprojekts „Unklare Lebenswege von Neurologen im Nationalsozialismus“ sollen auf den Jahreskongressen der DGN 2017 bis 2019 vorgestellt und zusätzlich ausführlich schriftlich dokumentiert werden.
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