Die Möglichkeiten, embryonale Fehlbildungen präventiv zu verhindern, sind sehr begrenzt. Allgemein sollten Frauen mit Kinderwunsch auf eine gesunde Lebensweise und Ernährung achten. Eine bedeutende Rolle gegen Neuralrohrdefekte (NRD) spielt die optimale Versorgung mit Folsäure bzw. Folat. Daneben ist ein Folatmangel möglicherweise auch verantwortlich für das Auftreten von angeborenen Herzfehlern. Die Reduktion von Neuralrohrdefekten und Herzfehlern durch eine adäquate Folsäureprophylaxe / Folatprophylaxe hätte einen immensen ethischen und medizinischen Vorteil.
Die Häufigkeit von Neuralrohrdefekten ist international sehr unterschiedlich: Während es in Wales 7,6 Defekte auf 1.000 Geburten sind, liegt das Verhältnis in Japan bei nur 0,9:1.000. Die Prävalenz für Deutschland wird mit etwa 1 Fall auf 1.000 Geburten angenommen. Spina bifida und Anenzephalie gehören mit 95 Prozent der Fälle zu den häufigsten Neuralrohrdefekten.
Ultraschall: Neue Ansätze in der Diagnostik
In einer noch laufenden prospektiven Multicenterstudie der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner Charité werden neue Ultraschallmarker untersucht, um Neuralrohrdefekte noch früher als bisher zu diagnostizieren. Bislang konnten im Rahmen der Studie schon mehr als 6.000 Untersuchungen im Ersttrimester durchgeführt werden. Dabei wurden erstmalig die Normwerte für verschiedene Parameter – Breite des Hirnstamms, der intracraniellen Transluzenz bzw. des IV. Ventrikels, der Cisterna magna und der Abstand zwischen Hirnstamm und Occipitalknochen – für das erste Trimester ermittelt.
Schon jetzt bietet die moderne Diagnostik gute Möglichkeiten, embryonale und fetale Fehlbildungen relativ früh festzustellen. Die pränatale Diagnose einer Spina bifida setzt eine systematische Untersuchung der Wirbelsäule in drei Ebenen voraus. Die Wirbelsäule wird von zervikal nach sakral in den longitudinalen, transversalen und frontalen Schnittebenen subtil untersucht. Im Transversalschnitt erscheint ein geschlossenes Neuralrohr durch die Wirbelbögen ringförmig mit darüberliegender gedeckter Haut. Bei einem Neuralrohrdefekt ist die Wirbelbogenstruktur U-förmig konfiguriert und häufig wölbt sich eine dünnwandige Zele (liquorgefüllte Aussackung) über den Defekt. Im Ultraschall ist das Ausmaß des knöchernen Defektes und damit eine Abschätzung der neurologischen Schädigung bei akzeptablen Untersuchungsbedingungen sowohl in der 2-D- als auch in der 3-D-Sonographie möglich. Bereits bei der Untersuchung des fetalen Köpfchens und der Gehirnstrukturen können Zeichen für eine Spina bifida gefunden werden. Häufig findet sich zu Beginn des 2. Schwangerschaftsdrittels eine Mikrozephalie (zu kleiner Kopfumfang) mit einer zitronenförmigen Kopfform, später kann sich eine Makrozephalie (zu großer Kopfumfang) entwickeln.
Pränatale Diagnostik einer Anenzephalie
Die pränatale Diagnostik einer Anenzephalie ist heutzutage mit hochauflösenden Ultraschallsystemen in erfahrenen Händen bereits mit 12 Schwangerschaftswochen möglich. Zu diesem Zeitpunkt ist oft noch Hirngewebe darstellbar. Im Verlauf der Schwangerschaft zerstört jedoch das Fruchtwasser irreversibel die Gehirnstrukturen.
Schon jetzt bietet die moderne Diagnostik gute Möglichkeiten, embryonale und fetale Fehlbildungen relativ früh festzustellen. Die pränatale Diagnose einer Spina bifida setzt eine systematische Untersuchung der Wirbelsäule des nur wenige Centimeter großen Embryos in drei Ebenen voraus. Bild: Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich, Berlin und Frau Otremba (Foto: MEDIZIN ASPEKTE J. Wolff)
Serumdiagnostik von Neuralrohrdefekten
Die Bestimmung des AFP (Alpha-Fetoprotein) aus mütterlichem Serum ist klinisch wertvoll beim Screening zur Bestimmung eines offenen Neuralrohrdefektes und anderen fetalen Fehlbildungen. Bei einem offenen Neuralrohr des Feten können die AFP-Werte im mütterlichen Serum und im Fruchtwasser erhöht sein.
Formen des Neuralrohrdefekts
Das Neuralrohr ist die sehr frühe embryologische Struktur, die letztlich das zentrale Nervensystem bildet. Das obere Drittel des Neuralrohrs entwickelt sich zum Gehirn, die unteren zwei Drittel zum Rückenmark und den Nervenbahnen. Dieser Prozess findet bereits in einer sehr frühen Phase der Schwangerschaft statt: Das Neuralrohr schließt sich etwa zwischen dem 22. und 28. Embryonaltag. Bei einer Störung kommt es z. B. zu einer Spina bifida (gespaltene Wirbelsäule) oder einer Anenzephalie (Fehlen des Schädeldachs mit Verlust der Gehirnsubstanz). Ursache für die Anenzephalie ist eine schwere Störung der Verknöcherung des Schädeldachs, die zu einer sekundären Autolyse des Gehirns führt. Bei der Spina bifida schließen sich die Wirbelbögen nicht richtig, so dass Nervengewebe freiliegt. Wie auch bei der Anenzephalie schädigt das Fruchtwasser irreversibel die Nerven und das Rückenmark.
Ursachen für Neuralrohrdefekte
Neuralrohrdefekte können verschiedene Ursachen haben, unter anderem chromosomale Störungen, einzelne Genmutationen, mütterlicher Diabetes, die Einnahme von teratogenen Substanzen (z. B. Antiepileptika) und eine unzureichende Folatversorgung. Bei unbekannter Ätiologie kann das Wiederholungsrisiko nach einer großen Studie von Hall et al. (1988)* wie folgt geschätzt werden: Für eine hohe Spina bifida (>T11) besteht ein 8-prozentiges, für eine tiefe Spina bifida (<T11) besteht ein 0,7-prozentiges Wiederholungsrisiko. Bei einem Anencephalus besteht ein 2,2-prozentiges Risiko für nachfolgende Schwangerschaften.
Folgen von Anenzephalie und Spina bifida
Bei einer Anenzephalie versterben die Kinder meist innerhalb der ersten Stunden nach Geburt. Die neurologischen und motorischen Folgen einer Spina bifida hängen in der Regel von der Lokalisation des Defektes ab. Je tiefer sie im Bereich der Wirbelsäule vorliegt, desto günstiger ist die Prognose hinsichtlich der Lähmungsfolgen und der Harn- und Stuhlinkontinenz. Das Ausmaß der mentalen Beeinträchtigung ist unter anderem abhängig vom Ausprägungsgrad eines sich entwickelnden Hydrozephalus (Wasserkopf) und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer Ableitung des Liquors (Gehirnwassers).
Bei der pränatalen Ultraschalldiagnose eines Kindes mit Neuralrohrdefekt ist eine einfühlsame interdisziplinäre Beratung erforderlich. Hierzu gehört eine humangenetische, geburtshilfliche, neonatologische und kinderneurochirurgische Beratung. Auch der Kontakt zu einem sozialpädiatrischen Zentrum mit großer Expertise in der Betreuung und Rehabilitation von erkrankten Kindern mit Neuralrohrdefekten und Selbsthilfegruppen sollte hergestellt werden.
Schwangerschaftsabbruch nach der Diagnose „Neuralrohrdefekt“
Nach § 218 kann die betroffene Schwangere aufgrund einer für sie unzumutbaren physischen oder psychischen Belastung einen Schwangerschaftsabbruch anstreben. Für diese schwerwiegende Entscheidung muss genügend Zeit anberaumt werden. Aktuell ist es nicht möglich, die Dimension der durch eine Spina bifida aperta („offener Rücken“) bedingten Lähmungen der unteren Extremitätenmuskulatur, der Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen sowie der geistigen Entwicklungsstörungen exakt vorherzusagen. Ein Großteil betroffener Schwangerer entscheidet sich insbesondere bei der Diagnosestellung vor der 22. Schwangerschaftswoche für einen Abbruch.
Die Geburt mit Spina bifida
Sofern sich die werdenden Eltern für das Austragen der Schwangerschaft entscheiden, werden serielle Ultraschalluntersuchungen angeboten, um das Ausmaß insbesondere der zerebralen Entwicklungsstörung zu dokumentieren. In der Regel wird eine Geburt per primärer Schnittentbindung mit ca. 37 Schwangerschaftswochen angeboten. Im Anschluss wird unter sterilen Bedingungen das Kind von Neonatologen erstversorgt und für die Operation vorbereitet. Ziel postnataler operativer Therapie ist es, die sich frei vorwölbenden nervalen Strukturen vor weiterer Schädigung zu schützen, den Defekt zu decken und Neuroinfektionen zu verhindern. Eine kurative Behandlung der sehr variabel ausgeprägten motorischen und sensiblen Störungen der unteren Extremitäten sowie von Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktion ist dagegen derzeit noch nicht möglich. Auf den operativen Verschluss folgt eine lebenslängliche Therapie.
Prävalenz und Diagnostik angeborener Herzfehler
Herzfehler werden mit einer Häufigkeit von 0,4 bis 0,8 auf 100 Lebendgeborene beobachtet. Ärzte in erfahrenen Zentren können in mehr als 90 Prozent der Fälle Herzfehler mittels Ultraschall pränatal entdecken. Die sensible Phase der Herzentwicklung beginnt mit der zweiten bis dritten Embryonalwoche und setzt sich bis in die zehnte Embryonalwoche fort. Es sind verschiedene Risikofaktoren bekannt, die das Entstehen von Herzfehlern begünstigen, so z. B. Diabetes, Drogenabusus oder hohes mütterliches Alter. Letztlich kommen aber 80 Prozent der erkrankten Feten aus einer Niedrigrisiko-Population.
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Quelle
Satellitensymposium
Anlass: 25. Deutschen Kongresses für Perinatale Medizin 2011
Berlin, 01.12.2011
Thema:
Primäre Prävention mit Folat und Fortschritte in der embryonalen
Diagnostik – immer früher, immer besser? Interaktives Seminar mit Live-Sonographie
Veranstalter: Merck Selbstmedikation
Vorsitz: Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich, Berlin
- Die Bedeutung der Folatversorgung ab Kinderwunsch bis zum Ende der Stillzeit
Prof. Dr. med. vet. Klaus Pietrzik, Bonn - Innovationen in der pränatalen Diagnostik – Live-Sonographie
Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich, Berlin