Bei der Jahrestagung der amerikanischen Fachgesellschaft für Hämatologie (American Society of Hematology, ASH) wurde eine Arbeit vorgestellt, die von Wissenschaftlern des Kompetenznetzes Leukämien entscheidend mitgestaltet wurde. Es handelt sich um Ergebnisse einer Phase II-Studie mit dem bispezifischen Antikörper Blinatumomab, der bei erwachsenen Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL) eingesetzt wurde. Die Arbeit wurde neben 23 anderen für die Vorstellung der besten Beiträge (‚Best of ASH‘) aus insgesamt mehr als 4000 eingereichten Beiträgen ausgewählt.
Patienten mit ALL weisen nach initialem Ansprechen auf die Therapie häufig noch eine sog. minimale Resterkrankung (MRD) auf. Es handelt sich dabei um Leukämiezellen, die mit konventioneller Mikroskopie nicht nachweisbar sind, weil sie unterhalb der Messbarkeitsgrenze von 5 % liegen. Mit molekulargenetischen Verfahren lassen sich Leukämiezellen bis zu einer Nachweisgrenze von 0,01 % quantitativ messen. In der deutschen Studiengruppe für die ALL des Erwachsenen (GMALL, German Multicenter Study Group for Adult ALL), mit über 140 beteiligten Kliniken unter Koordination von Dr. Nicola Gökbuget von der Universität Frankfurt, wurden diese Verfahren in Studien umfassend untersucht und in die Versorgung der ALL-Patienten deutschlandweit integriert. Dabei besteht eine enge Zusammenarbeit mit einem MRD-Referenzlabor der Universität Kiel unter Leitung von Prof. Dr. M. Brüggemann. ALL-Patienten mit MRD haben ein erhöhtes Rückfallrisiko und sprechen nicht gut auf konventionelle Chemotherapie an. Nach einem Rückfall einer ALL sind die Heilungschancen gering.
In der bei der ASH-Tagung vorgestellten Studie wurde ein neues Antikörper-Konstrukt untersucht. Es handelt sich um einen bispezifischen Antikörper, der sich sowohl gegen das CD19-Protein auf der Oberfläche der Leukämiezellen als auch gegen das CD3-Protein auf der Oberfläche körpereigener Immunzellen, den T-Zellen, richtet. Dadurch werden die T-Zellen sehr eng mit den Leukämiezellen zusammengebracht und aktiviert. Die T-Zellen proliferieren und zerstören seriell die Leukämiezellen. Da es sich um einen immunologischen Wirkmechanismus handelt, der die Immunabwehr des Körpers aktiviert, ist er auch bei Leukämiezellen wirksam, die resistent gegen Chemotherapie sind. Die Wirksamkeit dieses Medikaments wurde – ebenfalls unter intensiver Beteiligung der GMALL-Studiengruppe – auch bei Patienten mit Rückfall der ALL nachgewiesen.
In der nun vorgelegten Studie wurde Blinatumomab bevor es zu einem offenen Rezidiv kam bei Patienten mit minimaler Resterkrankung eingesetzt. Dahinter steckt die Überlegung, dass in dieser Situation das Risiko von Nebenwirkungen geringer, vor allem aber die Chance auf ein Ansprechen und eine Langzeitwirkung höher sein könnte. Dr. Nicola Gökbuget gemeinsam mit Prof. Dr. Ralf Bargou von der Universität Würzburg waren für die Konzeption, Durchführung und Auswertung mitverantwortlich. Die europäische Studie der Firma AMGEN wurde in 11 Ländern mit 46 Zentren durchgeführt; 116 Patienten wurden behandelt. Die Patienten erhielten mindestens einen Zyklus einer 28-tägigen Dauerinfusion von Blinatumomab. Danach konnten bis zu drei weitere Zyklen appliziert werden oder die Patienten einer allogenen Stammzelltransplantation zugeführt werden. Von 113 evaluierbaren Patienten erreichten 78 % ein komplettes Verschwinden der minimalen Resterkrankung. In 98 % der Fälle wurde dieses Ansprechen bereits im ersten Zyklus erreicht. Die häufigsten therapieassoziierten Toxizitäten waren mit der Freisetzung von Zytokinen durch die aktivierten T-Zellen assoziiert und manifestierten sich z.B. in Fieber, Kopfschmerzen oder Fatigue. Weiterhin traten auch neurologische Nebenwirkungen wie Tremor oder Symptome einer Enzephalopathie auf. Zwei Patienten verstarben unter der Studientherapie.
„Dies ist eine der weltweit ersten Studien, die eine neue Substanz bei Patienten untersucht hat, die kein volles Rezidiv, sondern eine minimale Resterkrankung aufwiesen“ sagte Dr. Nicola Gökbuget, die Erstautorin der Arbeit. „Unsere Ergebnisse mit Blinatumomab in dieser Behandlungssituation bestätigen eine signifikante klinische Aktivität bei ALL. Weitere Analysen nach längerer Beobachtungszeit werden zeigen, ob dies zu einem besseren Überleben der Patienten beiträgt. Dann könnte das Konzept von Studien bei minimaler Resterkrankung paradigmatisch für die Prüfung neuer Substanzen bei der ALL werden.“ Voraussetzung dafür ist eine komplexe Logistik, die in der Studiengruppe seit Jahren etabliert wurde. “Wir sind allen beteiligten Kliniken und ärztlichen Kollegen für die hervorragende Zusammenarbeit dankbar.“
Beim ASH wurde das Abstract mit dem Titel ‚BLAST: A Confirmatory, Single-Arm, Phase 2 Study of Blinatumomab, a Bispecific T-Cell Engager (BiTE) Antibody Construct, in Patients with Minimal Residual Disease B-Precursor Acute Lymphoblastic Leukemia (ALL)‘ unter der Nummer 379 eingereicht und ist online einsehbar.
Pressekontakt und Ansprechpartner für Fachvertreter:
Dr. rer. nat. Sina Hehn, Informationszentrum im Kompetenznetz „Akute und chronische Leukämien“, Universitätsklinikum Frankfurt, Tel: +49 (0)69 6301-6429, E-Mail: info@kompetenznetz-leukaemie.de
Das Kompetenznetz Akute und chronische Leukämien wurde 1999 als eines der ersten Kompetenznetze in der Medizin gegründet. Ziel ist der Aufbau eines weltweit führenden kooperativen Leukämie-Netzwerks zur Verbesserung der bevölkerungsbezogenen Versorgung und der gesundheitsbezogenen Forschung bei akuten und chronischen Leukämien. Seit seiner Gründung strukturiert das Netzwerk wesentliche Aktivitäten in der Leukämietherapie und -forschung in Deutschland und unterstützt den Transfer wissenschaftlichen Fortschritts von der Grundlagenforschung bis in die Patientenversorgung.