Mikrobielle Gemeinschaften für Gesundheit und Umwelt : Bakterielle Ökosysteme exakt vermessen

Mit seinen Erkenntnissen belegt und verknüpft das LCSB-Team um Prof. Dr. Paul Wilmes, Leiter der LCSB-Gruppe „Ökosystem-Biologie“ und ATTRACT-Fellow des Fonds National de la Recherche (FNR), verschiedene ökologische Theorien, die es zu makrobiotischen Systemen wie Wäldern, Flüssen oder Meeren gibt – die dort aber wegen der Größe der Lebensräume nicht tiefgehend experimentell untersucht werden können. Für ihre Analysen des Ökosystems Kläranlage setzten die Forscher systembiologische Methoden ein: Klärabwässer sind ein energiereiches Stoffgemisch. Sie enthalten Fette, Eiweiße, Kohlenhydrate und viele andere Substanzen, die Bakterien als Nahrung dienen. Dadurch wird jede Kläranlage ein komplexes Ökosystem. Zahllose Bakterienarten passen sich den Lebensumständen im Wasser an, wetteifern um die Ressourcen und suchen sich eine Nische, in der sie am besten überleben können.

„Die am LCSB entwickelten Techniken geben uns die Möglichkeit, diese Prozesse auf molekularer Ebene sehr genau zu analysieren“, sagt Dr. Emilie Muller, Erstautorin der Publikation. Grundlage sind die so genannten „Omics“ – Genomics, Transcriptomics, Proteomics oder Metabolomics –, sowie neue bioinformatische Auswertemethoden für eine integrierte Datenanalyse. „Damit können wir anhand von Wasserproben bestimmen, was für Organismen in der Kläranlage leben, wie ihre Populationsgröße, Genaktivitäten und Stoffumsätze aussehen. Eine Untersuchung einzelner Bakterien in Reinkultur ist dafür nicht mehr erforderlich“, erklärt Muller: „Auf dieser Basis können wir die Stoffströme im Ökosystem `Kläranlage´ genau darstellen und beispielsweise beschreiben, welche Bakterienart welche Substanz in einem bestimmten Ausmaß nutzt und verwertet.“

Doch eine reine Darstellung der Kläranlagen-Ökologie reicht Emilie Muller nicht aus: „Wir wollen verstehen, welche Faktoren die Artenzusammensetzung und damit das Gleichgewicht im Ökosystem bestimmen.“ Mullers Augenmerk liegt dabei vor allem auf der Bakterienart Microthrix parvicella, deren Genomsequenz von der LCSB-Gruppe vor zwei Jahren erstmals entschlüsselt wurde. Das Bakterium kann besonders viele Lipide aufnehmen und speichern. Im Winter gehören bis zu 50 Prozent aller Bakterien an der Oberfläche von Klärbecken zu dieser Art. Emilie Muller: „Das ist insofern erstaunlich, als im Winter der Lipidanteil im Klärwasser eher gering ist, und Microthrix dann eigentlich ungünstige Lebensbedingungen hat.“ Bei ihren Untersuchungen fanden Muller und ihre Kollegen dann heraus, dass in Microthrix das Gen, das an der Aufnahme der Lipide maßgeblich ist, in 28-facher Ausfertigung vorliegt: „Allerdings sind immer nur einige dieser homologen Gene aktiv“, sagt Muller, „und diese Feinjustierung ist für ökologischen Erfolg von Microthrix verantwortlich.“

Die Interpretation für diese Tatsache liefert Paul Wilmes: „Microthrix ist das, was in der Ökologie als ein Generalist bezeichnet wird. Der Organismus kann sich an sehr viele Lebensumstände anpassen und deshalb das schnell veränderliche Ökosystem der Klärbecken dominieren.“ Dabei helfen unter anderem die 28 Gene zur Lipidaufnahme, so Wilmes: „Jede Ausfertigung des Gens unterscheidet sich ein wenig von den anderen. Verändern sich die Lebensbedingungen, etwa indem die Temperatur sinkt oder sich die Lipidzusammensetzung ändert, springt ein anderes, optimal auf diesen Umstand eingestelltes Lipidaufnahme-Gen an. So kann Microthrix in einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensumwelten zurechtkommen.“ Wilmes Ziel: Die Leistung von Microthrix weiter zu steigern, sodass das Bakterium möglichst viele Lipide aus dem Klärwasser entnimmt. „Die in den Bakterien gespeicherten Lipide lassen sich als erneuerbare Energiequelle beispielsweise für die Produktion von Biodiesel nutzen.“

LCSB-Direktor Prof. Dr. Rudi Balling sieht in der Ökosystem-Forschung eine wichtige Grundlage für medizinische Fragestellungen: „Paul Wilmes und sein Team haben hier grundlegende Konzepte der Ökologie zum ersten Mal mit umfassendem Zahlenmaterial hinterlegt. Das ist wichtig, weil unsere Gesundheit maßgeblich von bakteriellen Ökosystemen beispielsweise im Darm oder auch auf der Haut mitbestimmt wird. Geraten diese fragilen Gleichgewichte durcheinander, können Krankheiten eintreten. Wir vermuten, dass dies auch für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson gilt. Mit den Arbeiten unserer Ökosystem-Gruppe sind wir ein wesentliches Stück vorangekommen, um diese Systeme besser zu verstehen – und das Wissen später im medizinischen Sinne einmal nutzen zu können.“

Die Untersuchungen wurden maßgeblich von den ATTRACT- und AFR-Programmen des Fonds National de la Recherche (FNR) unterstützt. Außerdem erhielten sie finanzielle Unterstützung von der Integrated Biobank of Luxembourg (IBBL) aus Mitteln des Luxemburgischen Ministeriums für Höhere Bildung und Forschung.

Die im Jahr 2003 gegründete Universität Luxemburg ist eine mehrsprachige, internationale Forschungsuniversität mit 6200 Studierenden und Mitarbeitern aus der ganzen Welt. Forschungschwerpunkte sind Informatik, Recht und Europarecht, Finanzwissenschaften, Erziehungswissenschaften sowie auf fachübergreifende Forschung durch das „Interdisciplinary Centre for Security, Reliability and Trust“ (SnT) in Informations- und Kommunikationstechnologie und das „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ (LCSB) in System-Biomedizin. www.uni.lu

____

Hinweise für die Redaktion

Full bibliographic information: Emilie E. L. Muller, Nicolas Pinel, Cedric C. Laczny, Michael R. Hoopmann, Shaman Narayanasamy, Laura A. Lebrun, Hugo Roume, Jake Lin, Patrick May, Nathan D. Hicks, Anna Heintz-Buschart, Linda Wampach, Cindy M. Liu, Lance B. Price, John D. Gillece, Cedric Guignard, James M. Schupp, Nikos Vlassis, Nitin S. Baliga, Robert L. Moritz, Paul S. Keim & Paul Wilmes: Community-integrated omics links dominance of a microbial generalist to fine-tuned resource usage. NATURE COMMUNICATIONS | 5:5603 | DOI: 10.1038/ncomms6603 |www.nature.com/naturecommunications. Nov 2014.

Nach oben scrollen