Gemeinschaftskongress von Dentista und GZM zur Parodontologie: Wissenschaft und Erfahrungsheilkunde, Immunsyst

Ein besonderer Spirit umgibt die Insel-Halle in Lindau: Hier kommen jeweils im Sommer die Nobelpreisträger zusammen, um mit jungen Wissenschaftlern die Weiterentwicklungen in den verschiedensten Bereichen zu debattieren. Im Fokus steht der Austausch von Expertise – und das Finden von wichtigen Fragen und Antworten.
Dieser  Geist umgab auch den ersten Gemeinschaftskongress von Dentista Club und der GZM/Internationale Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnheilkunde. Die Expertise aus klassischer sowie ganzheitlicher Wissenschaft und Praxis blätterte viele Aspekte von Physiologie und Medizin auf, um das Tagungsthema „Parodontologie – ohne Grenzen“ von so vielen Seiten wie möglich zu beleuchten. Die Rückmeldungen der rund 200 deutschen, österreichischen und Schweizer Teilnehmer, die am 2. und 3. Mai nach Lindau kamen, zeigen, dass solche Schnittstellen-Kongresse neue Impulse setzen.
Während einerseits Repräsentanten der Hochschulen Aktuelles aus ihren unterschiedlichen Gebieten präsentierten, luden Referenten aus komplementären Gebieten wie Naturheilkunde, Physiotherapie, Psychologie und Mikrobiologie zu einem erweiterten Blick auf bekannte Zusammenhänge ein. Als Bilanz nahmen die Teilnehmer neue Einsichten und damit auch Ansichten von sinnvollen Aspekten bei der Prävention, Therapie und Nachsorge parodontaler Erkrankungen mit und insbesondere die Erkenntnis, dass „PA“ in der Tat eine hochkomplexe Erkrankung ist, die nicht allein mit lokalen Maßnahmen behandelt werden kann.
 
Bio-Psycho-Soziales Krankheitsverständnis nötig
Nach einer Einführung von BZÄK-Vizepräsident Prof. Dr. Dietmar Oestereich zu epidemiologischen Aspekten der Parodontitis wurde die Notwendigkeit deutlich, wirklich jede Expertise zu nutzen, um der sich ausbreitenden Parodontitis bereits präventiv Einhalt zu gebieten: Bis zu 80 % der Bevölkerung haben in geringem bis hin zu dramatischem Ausmaß mit entzündlichen Zahnbetterkrankungen zu kämpfen. Das Lindauer Kongress-Konzept fand seine volle Unterstützung: „Hier wird nicht nur auf die kleine Tasche geschaut!“ Parodontitis sei heute unter biopsychosozialen Aspekten zu betrachten. Während in manchen Bereichen Kausalitäten rund um die parodontalen Infekte bereits gut belegt seien (z.B. Rauchen, Stress, Diabetes), sei in vielen anderen Bereichen noch hoher Erkenntnisbedarf vonnöten. Dazu, das bestätigten die Kongressteilnehmer, trug auch die Vielfalt der An- und Einsichten in die biologischen Zusammenhänge bei, die das Kongressprogramm vermittelt.
 
 
Aus dem Programm
Weitgezogener Blick auf Ätiologie und Therapie der Parodontitis
Unterschiedliche Aspekte mit Potential für weitergehende Forschung bestimmten die zwei Tage des Symposiums am Bodensee. Zum einen seien die Patienten individueller zu betrachten – auch hinsichtlich ihres Geschlechts als Mann oder Frau: Männer weisen mehr und schwerere Parodontitis auf als Frauen. Dazu gebe es bereits Erkenntnisansätze zu den Ursachen, berichtete PD Dr. Dr. Christiane Gleissner/Friedberg, aber diese müssten zur Entwicklung spezieller Programme unbedingt noch vertieft werden. Einen anderen Blickpunkt setzte Prof. Dr. Thomas Ostermann der Universität Witten-Herdecke: Anhand von Ergebnissen einer kleinen Studie zu Auswirkungen auf die Lymphozyten-Migration erklärte er, welche Rolle die Homöopathie spielen könnte. Laut Studie zeigte Sulfur D12 interessante Wirkungen. Er wünschte sich mehr Input von homöopathisch tätigen Zahnärzten zur Optimierung der Evidenzlage.
 
Symbiose und Immunsystem
Viel Zeit gab der Kongress dem Thema Bakterien, die bei PA üblicherweise als „Feinde“ dargestellt werden: „Wir wollen uns dem Thema einmal von der „pro“-Seite nähern“, sagte GZM-Vorstandsmitglied Christine Albinger-Voigt, die zusammen mit Dentista-Präsidentin Dr. Susanne Fath durch das Programm am Freitag führte. Veterinärmedizinerin Dr. Kracke übernahm diesen Themen-Part und füllte ihn mit Leben, Fakten und Emotionen. Bakterien hätten in Millionen von Jahren Mechanismen entwickelt, auch die schlechtesten Zeiten zu überstehen – dies müsse man bedenken, wenn man mit ihnen arbeite: „Wir dürfen nicht vergessen: Sie leben in einer Symbiose mit uns und wir brauchen sie. 99,98 % aller Bakterien sind in uns, ohne uns zu schaden!“ Tierärzten seien Zusammenhänge oft bewusster als den Humanmedizinern, daher überbringe sie entsprechend übertragbare Informationen in die anstehende PA-Debatte. Nur in krankem oder gestörtem Milieu werde die Symbiose der Mikroben gestört, so Kracke, durch Stoffwechselvorgänge komme es dann zu pathogenen Bakterienbelastungen. Sie gab praktische Tipps zur Steigerung der körpereigenen Abwehr und wies auf spannende Zusammenhänge von Ernährung, Darmflora und Immunsystem hin – eine hervorragende Grundlage für den Vortrag von Dr. Andrea Diehl/Berlin, die ein Praxiskonzept zur PA-Behandlung unter Einbeziehung der Darmsanierung vorstellte. Darmflora und orale Flora seien weitgehend identisch. Bei therapieresistenter Parodontitis solle der lymphatischen Situation (MALT, GALT etc.) Aufmerksamkeit geschenkt werden.
 
Behandlungskonzepte für die Praxis
Ein weiteres Behandlungskonzept fokussierte die Physiotherapie und die Osteopathie. Physiotherapeut Holger Hüttermann/Stuttgart zeigte, wie er mit gezielten osteopathischen Maßnahmen die Immunabwehr unterstützt. Beinahe ein Spaziergang durch Wald und Flur wurde der Vortrag von ZA Bernd Chargé/Villingendorf, der das jahrhundertealte Potential der Planzenwelt für das Immunsystem und speziell die oralen Strukturen vorstellte. Einiges davon spielt auch hinein in das „Friedewalder Modell“ – ein ganzheitliches Parodontitis-Konzept, das Dr. Ursula Meyer/Euskirchen vermittelte. Ebenfalls ein sehr anschauliches Praxiskonzept stellte Dr. Georg Gassmann/Witten-Herdecke für die Behandlung systemisch belasteter Patienten vor.
Auch bei parodontal geschädigtem Erwachsenengebiss kann Kieferorthopädie angezeigt sein – was man dabei beachten muss hinsichtlich der Arbeit mit dem belasteten Gewebe, berichtete PD Dr. Philipp Meyer-Marcotty/Universität Würzburg. Deutlich wurde dabei, dass Kieferorthopädie auch Parodontitis-vorbeugende Effekte haben kann. Den Blick aus dem Bereich Implantologie lieferte PD Dr. Nicole Pischon/Charité: Sie listete Unterschiede von Parodontitis und Periimplanttis vor und vermittelte Hinweise für die Praxen, wie man PA-Patienten mit Implantatbedarf am besten vor einer Periimplantitis schützt.
 
Begegnung und Erfahrungsaustausch
Einer der vielen schönen Effekte des Kongresses: PD Dr. Pischon beispielsweise tauschte in der Pause angeregt Erfahrungen mit Biochemiker PD Dr. Lutz Netuschil/Marburg aus, der seinerseits in seinem Vortrag über die Rolle von Entzündungsmarkern als Möglichkeit einer objektiven Kontrolle des PA-Behandlungserfolges berichtete. Aktivierte MMP-8 (matrix metalloproteinase-8 ) seien „die Machete im Kollagendschungel“ – und keineswegs als „PA-Bio-Marker“ zu sehen, sondern als frühzeitigen Indikator für Attachementverlust. Bei Periimplantitis, so Netuschil, „habe ich MMP-8, dass es nur so kracht!“ Interessante Ansätze für den Umgang mit refraktärer Parodontitis in der Praxis zeigte Dr. Heinz-Peter Olbertz/Troisdorf. Er stellte die Frage, ob die Parodontitis „Symptom oder eine Erkrankung sui generis“ sei und zeigte diagnostische Verfahrung über ein kinesiologisches Organscreening. Bei einer Parodontitis habe der Körper oft nicht zuviel von etwas, sondern zu wenig – orthomolekulare Ernährung könne hilfreich sein. Auch er blickte auf den Darm: Laut einer Masterstudie sei eine gestörte Dünndarmfunktion bei PA-Patienten signifikant häufiger als bei gesunden Vergleichspatienten.
 
Mit einem fast schon gesundheitsförderlichen, weil entstressenden Beitrag endete das vielfältige Symposium in Lindau: Dr. med. Wolf-Richard Nickel/Berlin erklärte die neurobiologischen Zusammenhänge von Stress und Immunsystem. Aus dem stress-induzierten Verhalten ergaben sich Gruppierungen verschiedener Belastungssymptome von völliger Erschöpfung bis hin zu großer Lebensfreude: Es seien die Emotionen, die bestimmten, ob das Hirn negative „Stress-Signale“ aussende oder nicht – insofern seien es auch die Emotionen, die zur Überwindung von Belastungen führten: Ein bisschen mehr „think positive“ im Leben, so der motivierende Abschluss, tue der Gesundheit, der Lebensfreude und damit auch der Prävention von Erkrankungen gut.

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