Die Netzhaut (Retina) in unseren Augen ist nicht nur eine Schicht von Lichtsinneszellen, die ähnlich einem Kamerachip Lichtmuster 1:1 ins Gehirn weiterschickt. Sie führt bereits hochkomplexe Verarbeitungsschritte durch, bei denen verschiedene Eigenschaften der Lichtreize herausfiltert werden: ob sich die Lichtintensität an einer Stelle gerade erhöht oder verringert hat, in welche Richtung sich ein Lichtpunkt bewegt oder auch wo eine Kante im Bild verläuft. Um diese Information verlässlich über den Sehnerv – eine Art Kabel – ins Gehirn zu übertragen, muss sie in eine Folge von stereotypen Aktionspotenzialen umgewandelt, also „digitalisiert“ werden. Nach der klassischen Lehrmeinung verwenden erst die Ganglienzellen, die die Information von der Netzhaut zum Gehirn weiterleiten, einen digitalen Code, ähnlich dem im Computer. Fast alle anderen Zellen, so nahm man an, arbeiten mit abgestuften, also analogen Signalen. Doch Tübinger Forscher konnten nun zeigen, dass bei Säugetieren bereits die Bipolarzellen, welche im retinalen Netzwerk direkt auf die Photorezeptoren folgen, in einem digitalen Modus arbeiten können.
Mit einer neuen experimentellen Technik gelang es dem Wissenschaftler Tom Baden und seinen Kollegen, Signale in den synaptischen Terminalen der Bipolarzellen in der Mäuseretina zu messen. Die Wissenschaftler konnten die Zellen basierend auf ihren Antworten auf einfache Lichtreize acht verschiedenen Typen zuordnen. Diese Typen entsprachen im Wesentlichen jenen, die man auf Grund physiologischer und anatomischer Studien erwartet hatte. Überraschenderweise sahen die Antwortsignale in den schnellsten Zelltypen aber anders aus als erwartet: Sie waren schnell, stereotyp, und tauchten entweder in voller Höhe oder gar nicht auf, waren also nicht abgestuft. All dies sind typische Eigenschaften von Aktionspotenzialen. Früher hatte man solche „digitalen“ Signale zwar bereits vereinzelt in Bipolarzellen beobachtet, aber für Sonderfälle gehalten. Studien aus den letzten beiden Jahren hatten die klassische Überzeugung, dass Bipolarzellen keine Aktionspotenziale erzeugen, bereits durch die Untersuchung von Bipolarzellen in Fischen ins Wanken gebracht. Die neuen Daten aus Tübingen zeigen jetzt, dass digitale Signale systematisch in bestimmten Bipolarzellen von Säugetieren generiert werden. Aktionspotenziale ermöglichen eine schnellere und zeitlich präzisere Signalübertragung als abgestufte Signale und bieten damit in bestimmten Situationen Vorteile. Damit bringen die Ergebnisse aus Tübingen ein sicher geglaubtes Dogma in der Hirnforschung endgültig zu Fall – und eröffnen eine Vielzahl neuer Fragen.
Das Bernstein Zentrum Tübingen ist Teil des Nationalen Bernstein Netzwerks Computational Neuroscience. Seit 2004 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dieser Initiative die neue Forschungsdisziplin Computational Neuroscience mit über 150 Mio. €. Das Netzwerk ist benannt nach dem deutschen Physiologen Julius Bernstein (1835-1917).
Text:
Simone Cardoso de Oliveira, Philipp Behrens
Weitere Informationen erteilen Ihnen gerne:
Dr. Tom Baden
Universität Tübingen
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) / Forschungsinstitut für Augenheilkunde
Otfried-Mueller-Strasse 25
72076 Tuebingen
Tel.: +49 (0)7071 29 84749
thomas.baden@uni-tuebingen.de
Prof. Thomas Euler
Universität Tübingen
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) / Forschungsinstitut für Augenheilkunde
Otfried-Mueller-Strasse 25
72076 Tuebingen
Tel.: +49 (0)7071 29 85028
thomas.euler@cin.uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Baden T., Berens P., Bethge M., Euler T. (2012): „Spikes in Mammalian Bipolar Cells Support Temporal Layering of the Inner Retina“. Current Biology: Dec 13, 2012.
http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2012.11.006