Differentialdiagnose mehrsprachiger Kinder. Erste positive Belege für die Nützlichkeit eines dynamischen Diagnostikansatzes zur Differentialdiagnose mehrsprachiger Kinder
Im deutschsprachigen Raum gibt es bereits eine Vielzahl an Diagnostikverfahren, die zuverlässig die Sprachentwicklungsstörungen monolingualer (einsprachiger) Kinder identifizieren können. Entsprechende Verfahren fehlen jedoch für mehrsprachige Kinder noch weitgehend, bzw. normorientierte Testverfahren sind für mehrsprachige Kinder oftmals nicht geeignet, da sie für einsprachig deutsche Kinder entwickelt wurden (vgl. Schulz, 2013; Rothweiler & Ruberg, 2013). Auch die Erhebung der Erstsprachfähigkeiten mithilfe computergestützter Progamme, wie beispielsweise mit ESGRAF-MK (Motsch, 2011) oder SCREEMIK2 (Wagner, 2008), liefere nicht immer sichere Hinweise (vgl. Chilla, 2014: 65). Obwohl Mehrsprachigkeit mittlerweile kein Einzelfall mehr ist, ist es immer noch schwierig eindeutig festzustellen, welche Gründe bei bilingualen Kindern zu Sprachauffälligkeiten führen. So kann die Frage, ob bestehende sprachliche Auffälligkeiten ein Zeichen geringer Deutschkenntnisse (d.h. das Kind hatte bisher noch zu wenig Kontakt zur deutschen Sprache) oder aber Ausdruck einer Störung der kindlichen Sprachentwicklung sind, nicht immer zweifelsfrei beantwortet werden. Es fehlen derzeit noch Normdaten und geeignete Testinstrumente für mehrsprachige Kinder, sodass der Sprachentwicklungsstand bilingualer Kinder momentan nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Bei diesen Kindern gibt es bedingt durch ihre Sprachbiografie quantitativ und qualitativ eine andere Erwerbsbedingung als beim Erstspracherwerb (vgl. Voet Cornelli, Schulz & Tracy, 2013: 914). Der Mangel an geeigneten Testverfahren für sukzessiv-bilinguale Kinder kann dazu führen, dass sprachliche Abweichungen bzw. Sprachauffälligkeiten über- oder unterbewertet werden (vgl. Rothweiler, 2007: 110ff.; Grimm & Schulz, 2013).
Differentialdiagnose mehrsprachiger Kinder
„Unklar ist, wie häufig bei mehrsprachigen Kindern eine SSES nicht als solche erkannt wird (missed identity) und wie häufig ein unauffälliger Zweitspracherwerb fälschlicherweise als gestört klassifiziert wird (mistaken identity)“ (Schulz, Grimm, Geist & Voet Cornelli, 2012: 281ff. nach Genesee, Paradis & Crago, 2004).
In beiden Fällen erhalten die Kinder nicht die für sie am besten geeignete Förderung oder Therapie, was enorme Konsequenzen für ihre weitere Entwicklung bedeutet. Gerade diese Differenzialdiagnostik von Sprachauffälligkeiten gegenüber Sprachentwicklungsstörungen im Kontext der Mehrsprachigkeit stellt eine besondere Herausforderung in der sprachtherapeutischen Praxis dar. Deutschland ist mittlerweile mit ungefähr 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ein Migrationsland (vgl. Motsch, 2013). Etwa 25 bis 30 % der Kinder in Deutschland wachsen zwei- oder mehrsprachig auf (vgl. Chilla, 2010). In Ballungsräumen ist der Anteil häufig noch größer (vgl. Kauschke, 2012: 121).
So haben „in Frankfurt z.B. […] 72 % aller unter 3-Jährigen und mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund“ (Haberzettl, 2014: 3 nach Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010) bzw. wachsen mehrsprachig auf.
Heute ist es unproblematisch, Sprachauffälligkeiten im Sinne von nicht altersentsprechenden Leistungen mittels statischer Diagnostikverfahren bei mehrsprachigen Kindern im Sinne von nicht altersentsprechenden Leistungen festzustellen. Es ist jedoch schwierig zu beurteilen, ob diese Auffälligkeiten im Rahmen von umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten oder aufgrund von Sprachentwicklungsstörungen entstanden sind. Besonders diese Differenzierung ist aber für die Entscheidung über den Förder- bzw. Therapiebedarf der Kinder notwendig, denn passende Förder- bzw. sprachtherapeutische Interventionen können die Entwicklungs- und Bildungsverläufe der bilingualen Kinder mit Sprachauffälligkeiten positiv beeinflussen.
Vor diesem Hintergrund wurde in den vergangenen Jahrzehnten in der sprachtherapeutischen Forschung, insbesondere im englischsprachigen Raum, eine Methode aus der psychologischen Kognitionsforschung entwickelt, um eindeutige und aussagekräftige Ergebnisse über die sprachlichen Fähigkeiten der mehrsprachigen Kinder zu erhalten. Bei der Methode ‘dynamic assessment’ werden im Rahmen eines dynamischen Vorgehens das Lernpotential und die auf die Sprache bezogenen Fähigkeiten der Kinder untersucht.
Im Rahmen dieser Arbeit wurde der dynamische Diagnostikansatz (dynamic assessment, DA) für das Deutsche erprobt und auf seine Differenzierungsfähigkeit zwischen bilingualen Kindern mit und ohne Sprachauffälligkeiten überprüft. Es sollte festgestellt werden, ob sich dieser Ansatz zur Beurteilung der Sprachfähigkeiten bilingualer Kinder eignet.
Eine Literaturrecherche zum Thema ‘dynamic assessment’ hat gezeigt, dass in der internationalen Forschung schon viele, überwiegend bilinguale Kinder im Rahmen des ‘dynamic assessment’ auf verschiedenen linguistischen Ebenen untersucht wurden. Der Ansatz hat sich als ein vielversprechendes alternatives diagnostisches Vorgehen für mehrsprachige Kinder im Vergleich zu statischen Diagnostikinstrumenten erwiesen und die Differenzierungsfähigkeit für bilinguale Kinder gleicher Altersgruppen wurde bestätigt. Somit bestehen erste positive Belege für die Nützlichkeit einer prozessorientierten Diagnostik. Für den deutschen Sprachraum wurden die Vorteile dieses Verfahrens zwar mehrfach betont, aber bislang nicht empirisch nachgewiesen (vgl. Scharff Rethfeldt 2013). Im Rahmen dieser Masterarbeit sollte die Differenzierungsfähigkeit des dynamischen Diagnostikansatzes für das Deutsche erprobt und auf seine Differenzierungsfähigkeit zwischen bilingualen Kindern mit sprachlich starken und schwachen Sprachfähigkeiten überprüft werden.
Ziel dieser Studie war es zu überprüfen, inwieweit ein Lernexperiment aus dem Ansatz ‘dynamic assessment’ zur sprachlichen Differentialdiagnostik mehrsprachiger Kinder geeignet ist. Es sollte herausgefunden werden, ob und wie sich bilinguale Kinder mit sprachlich schwachen und starken Fähigkeiten in der Bearbeitung von dynamic assessment-Aufgaben auf der Ebene der Morphologie voneinander unterscheiden.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich sowohl die sprachlich starke als auch die sprachlich schwache Gruppe im Rahmen dieser Studie sowohl quantitativ als auch qualitativ verbessern konnte und von der Lernphase profitiert hat. Dies könnte daran liegen, dass das im Rahmen dieser Studie verwendete Gruppeneinteilungskriterium mittels der Ergebnisse der LiSe-DaZ (Schulz & Tracy 2011) nicht für die Differentialdiagnose bei bilingualen Kindern mit und ohne Sprachauffälligkeiten geeignet ist. Die Einordnung über LiSe-DaZ als „Goldstandard“ zur Überprüfung der Validität des DA-Verfahrens konnte nicht aufgezeigt werden. Die über LiSe-DaZ ermittelte Gruppenzuordnung spiegelte sich nicht in der DA-Untersuchung wider, sodass über das hier verwendete DA-Verfahren nicht intakte bzw. eingeschränkte Lernmechanismen aufzudecken waren. Die beiden Gruppen unterscheiden sich zwar signifikant hinsichtlich ihrer Ergebnisse in der LiSe-DaZ, jedoch sind die T-Werte im Schnitt bei beiden Gruppen im Normbereich. Darüber hinaus geben die T-Werte und Rohwerte lediglich einen Hinweis darauf, ob die Kinder im Hinblick auf ihr Alter und die Kontaktdauer zum Deutschen die Sprache gut gelernt haben oder ob Förderbedarf in einem bestimmten Bereich besteht und weniger darauf, ob die Sprachlernfähigkeiten intakt sind. Aufgrund dessen kann davon ausgegangen werden, dass diese Gruppeneinteilung nicht zuverlässig die unterschiedlichen Lernertypen widerspiegelt. Das DA deckte unterschiedliche Lernpotenziale auf, denn einige Kinder sind modifizierbarer als andere, jedoch konnte nicht bestätigt werden, dass die Kinder, die im DA-Nachtest gut abschnitten, tatsächlich über ungestörte Sprachfähigkeiten verfügen und umgekehrt.
Die Differentialdiagnose bei bilingualen Kindern in Deutschland bleibt also weiterhin eine bislang unzureichend geklärte Aufgabe. Es ist generell schwierig, mehrsprachige Kinder als Gruppe zu beschreiben. Schulz (2013) weist darauf hin, dass diese Gruppe durch eine große Heterogenität charakterisiert ist, welche durch Unterschiede in den Erwerbsbiografien verursacht wird. Bilinguale Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen von typischen Lernern zu unterscheiden, sei eine komplexere Aufgabe als bei einsprachigen Kindern (vgl. Schulz 2013).
Das ‘dynamic assessment’ sollte in weiteren Studien auf die differentialdiagnostische Möglichkeit bei bilingualen Kindern geprüft werden, um die Kinder mit umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten von denen mit einer Sprachentwicklungsstörung unterscheiden zu können. Das ‘dynamic assessment’ sollte mit einer anderen Gruppeneinteilung als durch die LiSe-DaZ durchgeführt werden. Man könnte in einer weiteren Studie die Probanden aufgrund ihrer Sprachfähigkeiten in der Erstsprache, wie z.B. mit ESGRAF-MK, in Gruppen einteilen. Zudem sollte das DA-Verfahren mit größeren Populationen erprobt werden, um die international aufgezeigten Ergebnisse für die Differenzierungsfähigkeit des DA auch für bilinguale Kinder mit Deutsch als zweite Erstsprache oder Zweitsprache bestätigen zu können. Camilleri et al. (2014) betonen zusätzlich das DA auf mehreren sprachlichen Ebenen durchzuführen, um eine sichere Differentialdiagnose für bilinguale Kinder mit und ohne Sprachentwicklungsstörungen zu ermöglichen (vgl. Camilleri et al. 2014: 70). Das DA könnte in Zukunft ein in der Praxis eingesetztes Verfahren werden, welches die Sprachfähigkeiten von bilingualen Kindern unabhängiger von ihrem bisher erreichten Entwicklungsstand beurteilt (vgl. Wiegand 2014: 45).
Die hier erwähnte Masterarbeit wurde an der Philipps-Universität Marburg unter der Betreuung von Prof. Dr. Christina Kauschke und Dr. Frank Domahs verfasst.
Literatur:
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010). Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld: Bertelsmann.
Camilleri, B. / Hasson, N. / Dodd, B. (2014). Dynamic assessment of bilingual children’s language at the point of referral. Educational and Child Psychology, 31 (2), 57-72.
Chilla, S. (2014). Grundfragen der Diagnostik im Kontext von Mehrsprachigkeit und Synopse diagnostischer Verfahren. In Chilla, S. / Haberzettl, S. (Hrsg.), Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Band Mehrsprachigkeit. München: Urban und Fischer bei Elsevier, 57-71.
Chilla, S. / Rothweiler, M. / Babur, E. (2010). Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlangen – Störungen – Diagnostik. München: Reinhardt.
Genesee, F. / Paradis, J. / Crago, M. (2004). Dual language development and disorders. Baltimore: Paul H. Brookes Publishing Co.
Grimm, A. / Schulz, P. (2013). Specific language impairment and early second language acquisition: The risk of over- and underdiagnosis. Child Indicators Research – The Official Journal of the International Society for Child Indicators (ISCI), 7 (4), 821-841.
Motsch, H. J. (2013). Diagnostik und Therapie mehrsprachiger Kinder mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Logos, 21 (4), 255-263.
Haberzettl, S. (2014). Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft. In Chilla, S. / Haberzettl, S. (Hrsg.), Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Band Mehrsprachigkeit. München: Urban und Fischer bei Elsevier, 3-18.
Motsch, H. J. (2011). Evozierte Diagnostik grammatischer Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern (ESGRAF-MK). München: Reinhardt.
Rothweiler, M. / Ruberg, T. (2013). Mehrsprachigkeit als Herausforderung für die Sprachdiagnostik. Sprache – Stimme – Gehör, 37, 180.
Rothweiler, M. (2007). „Mistaken identity“ – Zum Problem der Unterscheidung typischer grammatischer Strukturen bei SSES und bei Mehrsprachigkeit. In de Langen-Müller, U. / Maihack, V. (Hrsg.), Früh genug – aber wie? Sprachförderung per Erlass oder Sprachtherapie auf Rezept? Tagungsbericht zum 8. Wissenschaftlichen Symposium des dbs e.V. in Gelsenkirchen. Köln: ProLog, 110-125.
Voet Cornelli, B. / Schulz, P. / Tracy, R. (2013). Sprachentwicklungsdiagnostik bei Mehrsprachigkeit. Eine Herausforderung für die pädiatrische Praxis. Monatsschrift Kinderheilkunde, 10, 911-917.
Scharff Rethfeldt, W. (2013). Kindliche Mehrsprachigkeit – Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. Stuttgart: Thieme.
Schulz, P. (2013). Sprachdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern – Language Assessment in Multilingual Children. Sprache – Stimme – Gehör, 37, 191-195.
Schulz, P. / Grimm, A. / Geist, B. / Voet Cornelli, B. (2012). Cammino – Mehrsprachigkeit am Übergang zwischen Kita und Grundschule. In Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.), Bildungsforschung Band 40: Bildungsforschung 2020 – Herausforderungen und Perspektiven. Dokumentation der Tagung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 29.-30. März 2012, 281-284.
Schulz, P. / Tracy, R. (2011). Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ). Göttingen: Hogrefe.
Wagner, L. (2008). SCREEMIK 2 – Screening der Erstsprachfähigkeiten bei Migrantenkindern. Eugen Wagner Verlag.
Wagner, L. (2008). SCREEMIK 2 – Screening der Erstsprachfähigkeiten bei Migrantenkindern. Eugen Wagner Verlag.
Wiegand, C. (2014). ‘Dynamic assessment’ als Möglichkeit der Differentialdiagnostik bei Sprachauffälligkeiten. Ein Lernexperiment zur Pluralmarkierung bei Neologismen. Unveröffentlichte Masterarbeit, Philipps-Universität Marburg.
Autor:
Kerstin Dralle
Theralingua – Logopädische Praxen
Mühlenweg 143
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