Dass Stress im Schlaf verarbeitet wird, ist keine ganz neue Erkenntnis. Denn das Gehirn ist mitnichten im Off-Modus, wenn sich die Augen schließen und die Muskulatur entspannt. Vielmehr werden die Tageserlebnisse umsortiert, eingeordnet, verarbeitet, mit Erfahrungen verknüpft oder auch mal vergessen. Nachts räumt der Kopf auf, sozusagen. Und das tut er nicht alleine. Wer unter Stress leidet, wacht häufig mit verspanntem Nacken, Kopfweh und noch gestresster als zuvor auf. Warum?
Wenn die Steuerzentrale weiterfunkt
Eigentlich sollte der Körper entspannen, wenn man sich schlafen legt. Das ist aber nicht immer der Fall. Viele Menschen schlafen unruhig, reden im Schlaf, werfen sich im Bett hin und her. Insbesondere die Kiefermuskulatur ist nachts oft aktiv: Die Zähne knirschen. Traumatische Erlebnisse, die im Schlaf weiterverarbeitet werden, können das nächtliche Zähneknirschen genauso auslösen wie eine aktuelle Belastung, beispielsweise unsichere berufliche Situationen oder bevorstehende unangenehme Termine.
Warum manche Menschen ausgerechnet mit Zähneknirschen, also mit einer extrem starken Anspannung der Kiefermuskulatur im Schlaf, auf psychischen Stress reagieren, ist immer noch nicht geklärt. Aber die nächtlichen Kieferaktivitäten können so weit gehen, dass Zahnschmelz abgesprengt wird, Zähne oder Füllungen brechen und sich die Kieferstellung verändert. Generell ist die Kiefermuskulatur des Menschen sehr stark.
Muskelschmerzen wandern durch den Körper
Dass die nächtlichen Aktivitäten im Kiefer in engem Zusammenhang mit anderen Beschwerden stehen können, ist schon länger bekannt. Die verspannte, überlastete und manchmal sogar von Muskelkater geplagte Kiefermuskulatur steht nicht alleine. Sie ist am Schädelknochen befestigt, so dass der bei extremer Anspannung in Mitleidenschaft gezogen wird. Die starke Anspannung setzt sich über das Skelett bis in Schultern, Lendenwirbelsäule und sogar die Sinnesorgane fort. Verspannte Nacken und Schultern sowie morgendlicher Schmerz im unteren Rücken können also nach dem heutigen Stand der Wissenschaft durchaus von dem nächtlichen Zähneknirschen verursacht sein.
Auch bei einem Tinnitus, extremer Empfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen, Sensibilität bei optischer Überreizung, Schwindel, Taumel und andere Beschwerden werden inzwischen mit dem sogenannten CMD-Syndrom in Verbindung gebracht. Und nicht immer ist die Überaktivität im Bereich der Kiefermuskulatur auf Stress zurückzuführen, es können wohl auch schlecht sitzende Füllungen und Kronen, Zahnextraktionen und kieferorthopädische Behandlungen dafür verantwortlich sein. Immer dann, wenn die Zähne nicht optimal aufeinander passen und seltsam greifen, kann das zu Verspannungen der Kiefermuskulatur führen.
Physiotherapie für die Gesichtsmuskulatur
Die Anamnese ist bei Beschwerden, die zum CMD-Syndrom passen, nicht einfach. Fragebögen, Bissproben und Röntgenuntersuchungen können helfen, die Ursachen zu finden. Ist die Diagnose einmal gestellt, wird oft mit Entspannungsübungen behandelt. Soforthilfe versprechen Wärme- oder Kälteanwendungen, weiche Nahrung und manchmal sogar Massagen. Außerdem gibt es weiche Schienen, die die Kiefermuskulatur temporär entlasten können. Ein Hersteller, Dentrade, nutzt wassergefüllte weiche Gelschienen für diesen Zweck, aber auch spezielle Bisspads und richtiges Trainingsgerät für die Physiotherapie im Mund stehen zur Verfügung. Kieferorthopädische Eingriffe, die die Zahnstellung korrigieren sollen, werden dagegen eher selten durchgeführt. Denn wird die „Architektur“ im Mund erneut verschoben, kann das zu neuen, unter Umständen sogar heftigeren Problemen führen.
In den vergangenen Jahren wurde die sogenannte kranimandibuläre Dysfunktion beziehungsweise das darauf zurückzuführende nächtliche Zähneknirschen häufig auch mit Botulinumtoxin behandelt. Im Abstand von jeweils drei Monaten wurde das in anderem Zusammenhang als Botox bekannte Nervengift in die Kiefermuskulatur gespritzt. Allerdings verursacht diese Behandlung irreparable Schäden am Kieferknochen, die zu Lockerungen der Zähne und einem stark erhöhten Risiko für Kieferfrakturen führen. Der neuste Stand der Wissenschaft ist, dass vor dieser Behandlung zu warnen ist.