Beifall für „Deutschland-Versicherung“

1.800 Studienanfänger der Leuphana Universität Lüneburg haben während ihrer diesjährigen Startwoche Modelle zum radikalen Umbau des öffentlichen Gesundheitswesens der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Sie fordern eine gesetzliche Grundversorgung für alle und damit eine Abschaffung des Ausstiegsrechts aus der Solidargemeinschaft für Bezieher höherer Einkommen und bestimmte Berufsgruppen. Experten aus Politik und Gesellschaft zeigen sich beeindruckt von dem Ergebnis.

Großes Interesse für die studentischen Vorschläge gibt es im Bundesministerium für Gesundheit. Staatssekretär Thomas Ilka lobte insbesondere das Engagement der Studierenden, aber auch das Startwochen-Konzept der Leuphana Universität Lüneburg. „Mit engagierten Studentinnen und Studenten und einer konzeptionell wie organisatorisch gut aufgestellten Universität lässt sich ganz offensichtlich sehr viel bewegen. Ergebnis dieses Engagements sind auch etliche neue und sehr bemerkenswerte Vorschläge zur Reform unseres Gesundheitswesens. Man muss nicht alle Vorschläge befürworten, aber sicher alle diskutieren. Am Sieger-Konzept gefällt vor allem, wie sehr die Studierenden die Rolle von Transparenz, Qualitätssicherung und Entbürokratisierung im Gesundheitswesen betonen. Der Gesetzgeber hat hier zwar bereits wichtige Schritte eingeleitet, aber alle Akteure des Gesundheitswesens sind aufgefordert, für diese Ziele noch mehr zu tun.“

Peter Clever von der Hauptgeschäftsführung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der selbst mit den Studierenden diskutiert hatte, lobte die Arbeit der Erstsemester: „Die Studierenden haben mit ihrem Vorschlag die wohl komplexeste sozialpolitische Aufgabe praxis- und lebensnah bewältigt. Es ist eine nicht zu unterschätzende Leistung, eine umfassende Koalition fast aller stakeholder zu einer gemeinsamen Positionierung gebracht zu haben. Ich bin sicher, dass die Grundzüge des Vorschlags sich in der öffentlichen Diskussion zur Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland wiederfinden werden.“ Auch die ehemalige DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer, sie hatte als Jurymitglied die Ideen der Studierenden bewertet, sieht in dem Sieger-Vorschlag ein großes Potential: „Die Studierenden der Leuphana haben eine tolle Leistung vollbracht und sich bei ihrer Arbeit nicht in den Grabenkämpfen der Institutionen verzettelt. Der Vorschlag stellt den Gedanken der Solidarität in den Mittelpunkt. Ich wäre froh, wenn die Politiker von der konsensorientierten Arbeit der Studierenden lernen.“

Lob kommt auch von Rainer Hess, dem unparteiischen Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses, in dem Leistungserbringer, Kostenträger und Patientenvertreter über die Gesundheitsversorgung in Deutschland entscheiden: „Die Herangehensweise an die Lösung von Problemen des Gesundheitswesens durch einen breit angelegten Diskurs unter Studenten mit Unterstützung durch Experten hat nicht nur mir, sondern offensichtlich auch den Studenten sehr viel Freude gemacht und findet meine ausdrückliche Anerkennung.“

Eckpunkte des Sieger-Vorschlages – er erhielt in einer Publikumsabstimmung die meisten Stimmen der Studierenden – sind eine solidarische Grundversorgung, volle Transparenz bei Leistungserbringung und Abrechnung, Qualitätssicherung und Nutzung neuer Technologien, etwa mit der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte oder der verstärkten Nutzung des Internets bei der Betreuung vor allem chronisch erkrankter Menschen. Dem Thema des Schutzes personenbezogener Daten soll dabei aber eine zentrale Bedeutung zukommen.

Im Zentrum steht die solidarische Grundsicherung für alle in Deutschland lebenden Menschen. Komfort-Zusatzleistungen sollen künftig ausschließlich bei privaten Anbietern abgeschlossen werden können. Der Leistungsumfang bleibt im Vergleich zu heute in weiten Teilen erhalten und soll kontinuierlich weiterentwickelt werden. Ein Gremium wie der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) bestimmt den Leistungskatalog der solidarischen Grundsicherung. Wesentliche Kriterien für diesen Katalog sollen gesellschaftliche Akzeptanz und valide Behandlungsmethoden sein. Innovationen sollen stets in Hinsicht auf den konkreten Patientennutzen evaluiert werden, bevor sie als Standardbehandlung zugelassen werden. Insbesondere sollen für die Pharmaindustrie Anreize gesetzt werden, Forschung und Entwicklung gegenüber der Vermarktung existierender Medikamente stärker zu fördern.

Finanziert wird das System weiterhin von Versicherten und Arbeitgebern. Arbeitgeberseitig bemessen sie diese am Arbeitgeber-Brutto, beim Versicherten indes an dessen gesamten zu versteuernden Einkommen – wozu z.B. auch Einnahmen aus Kapitalvermögen oder Vermietungen gehören. Darüber hinaus sollen Einnahmen aus Alkohol-, Tabak- und anderen Genussmittelsteuern zweckgebunden in die Finanzierung eingehen, ebenso wie ggf. Anteile einer erhöhten Erbschaftssteuer.

Das Modell wird von Ansätzen der Gesundheitssysteme in Schweden und der Schweiz inspiriert. So sprechen sich die Studierenden für die Einführung von Gesundheitszentren und die Stärkung der Rolle von Hausärzten als erste Anlaufstationen für Patienten bei einem gleichzeitigen Ausbau der ambulanten Versorgung aus. Eine Spezialisierung und Vernetzung der Leistungserbringer verbessere die medizinische Versorgung der Patienten.

Besonderen Wert legen die Studierenden auf Transparenz und Qualitätssicherung innerhalb des Systems. So werden nach ihrer Überzeugung öffentliche Rankings den Wettbewerb von Kliniken und Ärzten stärken, zu einem höheren Spezialisierungsgrad, einer besseren Ressourcennutzung und damit insgesamt zu mehr Qualität in der medizinischen Versorgung führen. Schließlich verlangen die Studierenden eine Entbürokratisierung des Verwaltungsapparats sowie neue Wege des Handels mit Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln.

Zusätzlich sprechen sie sich für die Einführung eines Präventionsfonds aus. Dessen Finanzierung wird von den Arbeitgebern (über die Unfallversicherung), den Rentenversicherungen und den Krankenversicherungen gemeinsam gewährleistet.

Holm Keller, hauptberuflicher Vizepräsident der Leuphana und für die Startwoche verantwortlich, freut sich über die Reaktionen auf die Arbeit der Studierenden: „Mich beeindruckt die durchgängige Zustimmung, die das vorgeschlagene Modell bei den Sozialpartnern ebenso wie bei herausgehobenen Vertretern des Gesundheitssystems gefunden hat.“ Die positiven Reaktionen zeigten, dass die Studierenden gute Arbeit geleistet und einen realistischen Vorschlag für die Umgestaltung des deutschen Gesundheitswesens vorgelegt hätten, so Keller weiter.

Die Startwoche an der Leuphana Universität Lüneburg stellt die Erstsemester-Studierenden alljährlich gleich zu Beginn ihres Studiums vor eine besondere Herausforderung: Innerhalb einer Woche erarbeiten sie in interdisziplinär zusammengesetzten Teams gemeinsam eine Lösung für ein komplexes Problem. Dieser Semesterauftakt ist Teil des im Jahr 2007 eingeführten College-Modells der Universität. Es wurde bereits mehrfach preisgekrönt und ist in Deutschland einmalig.

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