Eltern erleben sehr unterschiedliche Informationen rund um Stillen und Nuckeln, und auch den Kieferorthopäden und Kinderzahnärzten fehlten eine fundierte Meinungsbildung und hilfreiche Leitempfehlung für die Gespräche mit den Eltern. Anläßlich des 2. Gemeinschaftssysmposium Kinder-Zahn-Spange zeigte Kinderzahnärztin Sabine Bertzbach, Vizepräsidentin der DGK, in einem faszinierenden Animationsvideo die unterschiedlichen Muskelaktvitäten im Gaumen der Kinder beim Stillen und bei der Fläschchenfütterung: „Man sieht: Muttermilch umspült die Kinderzähnchen überhaupt nicht.“ Der emotionale Wert der Muttermilchgabe („Stillen ist kuschelig“) sei ebenso groß wie der Gesundheitswert für das Kind, und daher solle man Stillen unbedingt empfehlen.
Der Frage, ob hierbei mit Kariesschäden ob des Lactosegehaltes der Muttermilch zu rechnen sei, widmete sie sich ausführlich. Ihr Resümee: Muttermilch per se ist kein wirklicher Risikofaktor für Early Childhood Caries (ECC), einen Zusammenhang gebe es nur in sog. zivilisierten Völkern durch sehr frühzeitige, den Eltern oft unbewusste Zuckerbelastung des Kindermunds. Daher sei eine „Kinderzahnputzschule“ für Eltern der richtige Weg. Die Unterschiede Stillen/Fläschchen bestätigte auch Professor Hohoff: „Im Vergleich zum Stillen ist die Flaschchenfütterung ein bisschen wie Druckbetankung“, sagte sie, und führe zu anderen physiologischen Bewegungen. Anders als früher habe heute das Thema Overjet im Vergleich gestillte/nicht gestillte Kinder keine große Bedeutung mehr – aus kieferorthopädischer Sicht gebe es keinen Anlass, das Stillen zu favorisieren. Auch führe dieses, anders als oft kolportiert, selbst bei einem längeren Zeitraum nicht zu einer Störung der Verzahnung. Selbst überrascht worden sei sie allerdings von einer Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die nach dem Stillen (4. – 6. Monat) ausdrücklich einen Schnuller empfahl: Dies senke das Risiko für den plötzlichen Kindstod. Weitere Recherchen brachten auch statistische Risikoquoten, diese müssten aber für die Verhältnisse in Deutschland überprüft werden, eine Empfehlung, die auch Kinderarzt Dr. Häfner unterstützte.
Daumen oder Schnuller?
Einige Unruhe im Auditorium verursachte Professor Hohoffs Statement, kieferorthopädisch gesehen sei der Schnuller ein signifikant höheres Risiko für eine Malocclusion als der Daumen: „Das zerstört ja mein ganzes Weltbild“, meinte eine Teilnehmerin. Auch er habe immer gedacht, der Daumen sei schlimmer, meinte Professor Radlanski und dankte im Namen des Auditoriums für die spannenden Denkanstöße. Eigens für das Symposium hatte er in seinen Vortragsabschnitten eine aktuelle Literaturanalyse zum Thema Schnuller erstellt – und eine mögliche Erklärung für den Drang zum Nuckeln geliefert: „Beim Wachstum des Feten liegt der Daumen immer in der Nähe des Mundes, die Verbindung Daumen, Mund und Gehirn spielt pränatal eine große Rolle.“ Dies sei deshalb sowohl psychologisch als auch physiologisch interessant.
Eindrucksvoll auch der Ausflug in die Neurobiologie, von der man lernen könne, was beim Nuckeln im Gehirn ablaufe – die Erkenntnisse zeigten: „Das Nuckel-Abgewöhnen muss man genauso lernen wie eine Fremdsprache!“ Einen wichtigen Hinweis für die Elternkommunikation gab Kinderzahnärztin Drs. Johanna Kant, Vorsitzende des BuKiZ: „Wenn man einem Kind den Schnuller abgewöhnen will, muss man zuerst die Eltern auf seine Seite bringen!“ Mit ihnen solle, mit ausreichend Vorlauf, ein Zeitpunkt gefunden werden, zu dem die Nuckelei gemeinsam beendet werde, denn für Eltern spiele der Schnuller oft eine große Rolle im Alltag: „Beachten Sie: Nicht wir Zahnärzte sind es, die das Habit verbieten, sondern die Eltern wollen das Beste für ihr Kind.“ Zum Thema Schnuller berichtete Gastreferent Prof. Dr. Rolf Hinz/Herne über die Historie des Schnullers und Hintergründe für neue Entwicklungen, dabei bezeichnete er „altersgerechte Sauger“ als reines Marketingargument und verwies auf die Probleme eines zu dicken Saugerhalses. Was die Frage Daumen oder Nuckel angeht, machte er deutlich, dass die „Nuckeldauer“ der entscheidende Faktor sei: „Mit Daumen im Mund kann man nicht Lego spielen – mit Nuckel im Mund geht das stundenlang.“
Erfahrungen zusammentragen aus Wissenschaft und Praxis
Die Podiumsrunde wurde zu einer offenen Diskussionsrunde mit dem Fachpublikum, das sich mit vielen Fragen und eigenen Anregungen einbrachte. Dabei wurde deutlich, wie viel die Teilnehmer von den unterschiedlichen Sichtweisen lernten. Nachdenklich geworden meinte beispielsweise Prof. Dr. Dr. Wilfried Engelke/Göttingen, Referent des Nachmittagsparts zum Thema „HNO“: Was die protektive Wirkung des Schnullers bei plötzlichem Kindstod beträfe, könne dies auf einen Einfluss des Schnullers auf Atmung und Luftweg zurückzuführen sein, es sei interessant, hier weiter zu forschen. Ohnehin nahm er die Kinderzahnärzte und Kieferorthopäden dann mit auf den Weg durch die verschiedenen Luftwege in Kopf und Rachen – mit dem Ziel, die Forderung „Mund zu“ fachlich zu unterlegen. Abrundend berichtete RA Stephan Gierthmühlen über rechtliche Besonderheiten bei der Kinderbehandlung und gab praktische Tipps für die Praxisverwaltung.
Weitere Informationen:
– gemeinnützige Initiative Kiefergesundheit
– Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden
– Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde
– Bundesverband der Kinderzahnärzte
Dr. Gundi Mindermann (1. Bundesvorsitzende des BDK)
www.zahndienst.de