Auf der Suche nach den Wurzeln

Die Methoden zu ihrer Analyse sind allerdings meist seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt worden – anders als zum Beispiel die genetischen und molekularen Untersuchungstechniken, die immer weiter verfeinert wurden. Die Arbeitsgruppe Genomische Mikrobiologie am Institut für Allgemeine Mikrobiologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat nun ein neues Verfahren entwickelt, das die evolutionsbiologische Forschung revolutionieren und offene Fragen in der Entwicklungsgeschichte des Lebens klären könnte. Ihre universell einsetzbare bioinformatische Methode zur Analyse der evolutionären Abstammung und Verwandtschaftsverhältnisse beschreiben die CAU-Forschenden Fernando Tria und Dr. Giddy Landan in der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution.

Das Forschungsteam unter der Leitung von Professorin Tal Dagan, Mitglied im evolutionsbiologischen Forschungszentrum „Kiel Evolution Center“ (KEC) an der CAU, nennt die neu entwickelte Methode „Minimal Ancestor Deviation“ (Deutsch: „Minimale Abweichung vom Vorfahren“, MAD). Sie ist in der Lage, auf Grundlage verschiedener Daten aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung und ohne hypothetische Annahmen über die Verwandtschaftsbeziehungen der beteiligten Lebewesen ihren gemeinsamen evolutionären Ursprung mit großer Präzision zu berechnen. Mit vergleichsweise geringem Aufwand erreicht MAD eine bisher unerreichte Präzision: So ließ sich mit über 70-prozentiger Genauigkeit der evolutionäre Ursprung einer Gruppe von Organismen bestimmen. „Unser Verfahren beruht auf einem mathematischen Ansatz, der bestimmte Störfaktoren kompensieren kann, die bisher für große Ungenauigkeit in der Untersuchung von entwicklungsgeschichtlichen Stammbäumen sorgten“, erklärt Fernando Tria, Erstautor der Studie und Doktorand in der Arbeitsgruppe Genomische Mikrobiologie an der CAU.

Die Erforschung der Abstammung war bisher mit verschiedenen grundlegenden Problemen verbunden: Einerseits basierten einige der verwendeten Verfahren zum Beispiel auf der Annahme, dass Evolution in geregelten zeitlichen Intervallen abläuft – also zwischen den Entwicklungssprüngen immer exakt gleiche Zeitabstände liegen müssen. Je stärker die tatsächliche evolutionäre Entwicklungsrate von dieser theoretischen Annahme abweicht, desto ungenauer wurden bislang die Rekonstruktionen. Andererseits verlangten bestimmte Ansätze zur Bestimmung des evolutionären Ursprungs eine gewisse Vorkenntnis der Abstammungsverhältnisse der untersuchten Organismen, die in vielen Fällen aber nicht zur Verfügung steht.

Hier schlagen die Kieler Forschenden einen neuen Ansatz vor: Die MAD-Methode zielt darauf ab, den gemeinsamen Vorfahren zu bestimmen, von dem alle Lebewesen eines Stammbaums mit unbekannter Wurzel abstammen. Dazu analysiert MAD die Länge der Stammbaum-Äste; der Abstand zwischen zwei Lebewesen gibt Auskunft über ihr Verwandtschaftsverhältnis. Je näher sie beieinander liegen, desto enger sind sie voraussichtlich verwandt. Aus der Analyse aller beteiligten Organismenpaare kann MAD die Position des gemeinsamen Vorfahren im Stammbaum berechnen. Diese Analyse aller Organismenpaare bildet den Schlüssel, um die bislang vorherrschenden Störfaktoren in der Abstammungsuntersuchung zu umgehen. Auf diesem Weg erzielt MAD eine bislang nicht erreichte Präzision.

Um diese Genauigkeit zu belegen, testete das Kieler Forschungsteam um Gruppenleiterin Dagan die MAD-Methode an bereits gut untersuchten evolutionären Stammbäumen, in denen der jeweilige Ursprungsorganismus als bewiesen gelten kann. Dazu nutzten sie rund 1500 Beispiel-Stammbäume, die sie aus den Proteinsequenzen von 31 verschiedenen Organismen rekonstruiert hatten. Im Vergleich mit den zwei gängigsten Rekonstruktionsverfahren lieferte MAD mit einer Genauigkeit von über 70 Prozent mit Abstand die besten Ergebnisse. „Unsere hochpräzise Methode hat das Potenzial, in der Evolutionsbiologie seit langem diskutierte Theorien zu entscheidenden Abstammungsfragen in der Entwicklung des Lebens definitiv zu beantworten“, zeigt sich Gruppenleiterin Tal Dagan optimistisch. In Zukunft könnte das Kieler Forschungsteam zum Beispiel dazu beitragen, den umstrittenen Ursprung des vielzelligen Lebens zu klären. „Faszinierend ist darüber hinaus, dass unser Verfahren tatsächlich universell einsetzbar ist. Von der Herkunft und Entwicklung von Sprachen bis hin zur Evolution von Krankheitserregern können wir damit völlig verschiedene Typen von Abstammungsgeschichten rekonstruieren“, so Dagan weiter.

Die Forschungsarbeit wurde im Rahmen des Projekts EVOLATERAL vom Europäischen Forschungsrat (ERC) und dem CAPES-Programm der brasilianischen Regierung im Rahmen des internationalen Mobilitätsprogramms „Science without Borders“ unterstützt.

Originalarbeit:
Fernando Tria, Giddy Landan and Tal Dagan: “Phylogenetic rooting using minimal ancestor deviation”. Nature Ecology and Evolution, Published on June 19, 2017, https://www.nature.com/articles/s41559-017-0193

Es stehen Fotos/Materialien zum Download bereit:
http://www.uni-kiel.de/download/pm/2017/2017-272-1.jpg
Bildunterschrift: Dr. Giddy Landan, Fernando Tria und Prof. Tal Dagan (von links nach rechts) veranschaulichen die Bestimmung des Ursprungs in einem evolutionären Stammbaum. Foto: Ryszard Soluch

Kontakt:
Prof. Tal Dagan
Genomische Mikrobiologie
Institut für Allgemeine Mikrobiologie, CAU
Telefon: 0431 880-5712
E-Mail:tdagan@ifam.uni-kiel.de

Fernando Tria
Genomische Mikrobiologie
Institut für Allgemeine Mikrobiologie, CAU
Telefon: 0431 880-5744
E-Mail:ftria@ifam.uni-kiel.de

Weitere Informationen:
Genomische Mikrobiologie (AG Dagan),
Institut für Allgemeine Mikrobiologie, CAU Kiel:
http://www.mikrobio.uni-kiel.de/de/ag-dagan

Forschungszentrum „Kiel Evolution Center“, CAU Kiel:
http://www.kec.uni-kiel.de

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Text / Redaktion: ► Christian Urban

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